Schon seit neun Jahren ist das ostukrainische Awdijiwka Frontstadt. 2014 haben russische Truppen oder von Russland unterstützte Separatisten damit begonnen, die Ortschaft in der Oblast Donezk einnehmen zu wollen. Geschafft haben sie es bisher noch nie.
Im Ukrainekrieg hat Awdijiwka aber kaum eine Rolle gespielt. Bis jetzt. Nach monatelanger, überwiegend defensiver Kriegführung haben die russischen Streitkräfte Anfang Oktober ihre gross angelegten Offensivoperationen in der Ostukraine wieder aufgenommen. Seither toben rund um die Ortschaft heftige Kämpfe.
Laut der amerikanischen Denkfabrik Atlantic Council bleiben russische Erfolge aber bisher aus. Trotzdem geben die russischen Truppen trotz massiven Verlusten den Kampf nicht auf. Warum?
Russland möchte endlich ganz Donezk einnehmen
Die symbolische Bedeutung ist nicht zu unterschätzen. Da die beiden Kriegsparteien bereits seit beinahe zehn Jahren um die Ortschaft kämpfen, wäre ein Sieg für Russland von grosser Bedeutung. Insbesondere für den russischen Verteidigungsminister Sergei Schoigu (68), der bereits im vergangenen Herbst einen Angriff auf Awdijiwka angeordnet hatte – der kaum Fortschritte gebracht hat.
Der Stadt kommt auch eine grosse strategische Bedeutung zu. Sie ist zwar noch ukrainisch kontrolliert, doch liegt sie genau auf der aktuellen Frontlinie. Das Ziel Russlands scheint die Einkreisung der Stadt zu sein. Dies könnte die Grundlage für das weitergehende Ziel bilden, die Kontrolle über das gesamte Gebiet Donezk zu erlangen, eine der fünf ukrainischen Provinzen, die Moskau «annektiert» hat.
Zudem wollen die russischen Streitkräfte wohl versuchen, ukrainische Kräfte im Osten in Awdijiwka zu binden, um im Süden freie Bahn zu haben. Und durch ihre Nähe zu Donezk – die Städte trennen lediglich 15 Kilometer – ist Awdijiwka ein wichtiger militärischer Stützpunkt für die Ukraine. Eine Eisenbahnlinie verbindet die Ortschaft mit der Westukraine, über welche die ukrainischen Truppen Nachschub erhalten. Deshalb galt einer der ersten Angriffe der Russen im Oktober dieser Eisenbahnlinie.
Die Verbindung konnte aber nicht ganz gekappt werden. Dafür haben die russischen Truppen bei diesem Vorhaben laut der Plattform «Frontline Intelligence» 109 gepanzerte Fahrzeuge und unzählige Soldaten verloren. Denn die Ukrainer haben seit 2014 ihre Verteidigung rund um die Ortschaft verstärkt, ein Durchkommen ist für das russische Militär kaum möglich.
Haben die Russen mehr Material als gedacht?
An Aufgeben ist für die Russen aber nicht zu denken, so die Analysten von Atlantic Council. «Die russische Awdijiwka-Offensive ist eine gross angelegte Operation, die Moskaus Wunsch widerspiegelt, die Initiative zurückzugewinnen, da der Krieg mit der Ukraine die 20-Monats-Marke überschreitet.» Laut dem britischen Geheimdienst handelt es sich bei den neuen Angriffen auf die Ortschaft um die «wichtigste offensive Operation seit Januar».
Das zeigt: So schlecht wie viele westliche Beobachter annehmen, steht es gar nicht um das russische Militär. Russland gehen, trotz gewaltigen Verlusten in den vergangenen anderthalb Jahren, die Ressourcen für eine Fortsetzung des Krieges nicht aus. Zwar häufen sich die Berichte russischer Soldaten über einen Mangel an Waffen, Munition und fähigem Führungspersonal. Aber die Lücken liessen sich bisher stets irgendwie stopfen. Anfang Woche wurde bekannt, dass Russland nun auch Soldatinnen an die Front senden möchte.
Militärische Kräfte reichen für Erfolg nicht aus
Die Schlacht um Awdijiwka ist zwar noch lange nicht vorbei, aber ein russischer Erfolg bleibt fragwürdig. Der amerikanische Militäranalyst Michael Kofman meint in seinem Podcast: «Die Angriffe auf die Stadt zeigen, dass die Qualität der russischen Kriegsführung und das zur Verfügung stehende Material nicht ausreichen, um ukrainische Verteidigungslinien effektiv zu durchbrechen.»
Ohne eine weitere Mobilisierung sei Russland demnach nicht in der Lage, signifikante Offensivoperationen durchzuführen. Trotzdem müsse die Ukraine den Druck aufrechterhalten, Russland dürfe nicht unterschätzt werden, schlussfolgert Kofman.