Aller Augen richten sich im Moment auf die Eskalation des Nahostkonflikts. Doch da war doch noch der Krieg in der Ukraine, den Russland vor 600 Tagen mit einer Invasion ins Nachbarland angezettelt hat. Wir zeigen dir, welche Erfolge die Ukrainer in den vergangenen Tagen erzielt haben und ob die Lieferungen hypermoderner Raketen aus den USA die Wende bringen.
Welche Erfolge haben die Ukrainer erzielt?
Die Ukraine hat seit Sommer rund 200 Quadratkilometer ihres Territoriums zurückerobert – hauptsächlich im Raum Robotyne, wo es gelang, die erste Verteidigungslinie der Russen zu durchbrechen. ETH-Militärstratege Mauro Mantovani (60) sagt: «Insgesamt sind die Geländegewinne, gemessen an den allseitigen Erwartungen, allerdings bescheiden und die beidseitigen Verluste sehr hoch.»
Die verbesserten Aufklärungs- und Reaktionszeiten von Artillerie und Kampfdrohnen favorisierten inzwischen klar den Verteidiger. «Daher sind die Frontlinien festgefahren», sagt Mantovani.
Wie viele Menschen sind bisher getötet worden?
Die genaue Zahl ist schwierig zu ermitteln. Neutrale Beobachter gehen auf russischer Seite von 120’000 Toten und gegen 180’000 Verwundeten aus, auf ukrainischer Seite von 70’000 Toten und gegen 120’000 Verwundeten.
Wie wirkt sich der Winter auf den Kriegsverlauf aus?
Kälte und Schnee werden die Mobilität der Truppen weiter reduzieren. «Das gilt nicht für Luftangriffe im rückwärtigen Raum, wo ich sogar von einer Intensivierung ausgehe», sagt Mantovani.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (45) hat vor neuen Angriffen gegen die Energie-Infrastruktur seines Landes gewarnt. «Wir haben die Luftverteidigung so weit wie möglich verstärkt, soweit dies unter den derzeitigen Bedingungen realistisch ist.» Die Russen hatten im vergangenen Winter gezielt die Energieversorgung angegriffen.
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Bringen die ATACMS-Raketen die Wende?
In den vergangenen Tagen hat die Ukraine amerikanische ATACMS-Raketen (Army Tactical Missile System) erhalten, die ein Ziel selbst auf 300 Kilometer Distanz sehr genau treffen können. Bereits beim ersten Schlag haben die Ukrainer am Dienstag offenbar mehrere russische Helikopter und Landebahnen im Süden und Osten der Ukraine zerstört. Militärökonom Marcus Keupp (46) von der ETH Zürich twitterte dazu, dass dies das Ende der russischen Invasion sei: «Ukraine hat ATACMS, schiesst russische Luftwaffe in Stücke.»
Auf focus.de sagt Politik- und Sicherheitsexperte Gerhard Mangott (57) von der Uni Innsbruck, dass das System die Ukraine zwar deutlich stärke, aber keinen Wendepunkt herbeiführe. Mangott: «Russland hat für den Fall der Lieferung von ATACMS mit der militärischen Eskalation gedroht. Wir müssen abwarten, ob Russland nun tatsächlich militärisch eskaliert. Sieht man von taktischen Nuklearwaffen ab, hat Russland aber nur mehr wenige Möglichkeiten dazu.»
Welche Auswirkungen hat der Nahost-Konflikt?
Russland kommt der Konflikt im Nahen Osten gelegen, da dieser die USA davon ablenkt, die Ukraine mit Waffen und Geld zu unterstützen. Die Hilfszusagen der USA und anderer Staaten für Israel befeuern in Moskau die Hoffnungen, dass die milliardenschwere Militärhilfe des Westens für die Ukraine noch schneller erlahmt als im Kreml erwartet.
Russische Staatsmedien frohlocken zudem, dass die Krise im Nahen Osten dauerhaft zu höheren Ölpreisen führt, wodurch mehr Geld in den Haushalt komme. Auch Ulrich Schmid (57), Russland-Experte an der Uni St. Gallen, bestätigt gegenüber Blick: «Der Konflikt in Israel spielt dem Kreml in die Hände.»
Lassen die USA die Ukraine fallen?
Nach den Angriffen der Hamas auf Israel wächst in Kiew die Sorge darüber, dass die internationale Unterstützung für die Ukraine nachlassen könnte. Wolodimir Selenski bat daher bei seinem Nato-Besuch, die Ukraine weiterhin zu unterstützen, um Russland in die Knie zu zwingen.
US-Präsident Joe Biden (80) hat zugesichert, dass die USA sowohl die Ukraine als auch Israel militärisch unterstützen und dennoch gleichzeitig die Fähigkeiten zur allgemeinen Verteidigung des eigenen Landes aufrechterhalten könnten. Biden: «Wir haben die Möglichkeit, das zu tun. Wir haben eine Verpflichtung. Und wenn wir es nicht machen, wer dann?» Allerdings müssen weitere Militärhilfen vom Parlament abgesegnet werden.
Wie wird der Krieg weitergehen?
ETH-Militärstratege Mauro Mantovani erwartet weitere ukrainische Erfolge bei der Abnützung der russischen Besatzungsarmee durch die Lieferung von schwer abzuwehrenden Waffen und Munition wie ATACMS. Mantovani: «Mit Streumunition versehen, könnten nun auch Flächenziele bekämpft werden, womit etwa Truppenmassierungen, Flugplätze oder Versorgungsstützpunkte im gesamten russisch besetzten Gebiet in den Fokus rücken.»
Auch sollte die Ukraine demnächst GLSDB (Ground Launched Small Diameter Bombs) erhalten, eine hochpräzise Lenkwaffe mit einer Reichweite von gegen 150 Kilometern. Damit könnten verbunkerte Ziele und Anlagen der Russen zur bodengestützten Luftverteidigung ausgeschaltet werden.