Mehr als anderthalb Jahren dominierte der Krieg in der Ukraine die weltweiten Schlagzeilen – und vielfach die Aussenpolitik der Weltmächte. Die Hamas-Massaker am frühen Samstag vor einer Woche in Israel und die drohende Eskalation im Gazastreifen verdrängten Russlands brutalen Invasionskrieg aber schlagartig von den Frontseiten.
Der Hamas-Grossangriff auf Israel, der auf beiden Seiten bereits Tausende von Toten und Verletzte gefordert hat, wurde auch als «Geschenk der Hamas an Wladimir Putin» bezeichnet. Am Tag der Hamas-Massaker, am 7. Oktober, hatte Putin seinen 71. Geburtstag gefeiert.
Wie etwa eine Analyse von Google Trends bestätigt, hat der Nahost-Konflikt die Aufmerksamkeit des Westens für die Ukraine seither beträchtlich abgelenkt. In Russland wird bereits darüber frohlockt.
Ukraine beklagt Kriegsmüdigkeit der Verbündeten
Brüssel und Washington versichern Kiew ungebrochene Solidarität und Unterstützung. In Russland wird inzwischen gespottet, dass «der Albtraum von Selenski und seinen Komplizen wahr wird», kommentiert etwa die Zeitung «Komsomolskaja Prawda». Der Westen vergesse die Ukraine bereits, heisst es höhnisch.
Für Washington komme der Nahost-Konflikt gelegen, so der Autor: «Die Vereinigten Staaten haben jetzt eine sehr bequeme Ausrede, um die ‹gescheiterte Ukraine› der Europäischen Union zu übergeben, indem sie so tun, als hätten die Vereinigten Staaten überhaupt nichts damit zu tun.» Natürlich werde der Westen die Ukraine «nicht abrupt verlassen, sondern schrittweise».
Dem muss auch der ukrainische Finanzminister Serhij Martschenko (42) widerwillig beipflichten. Im Vergleich zum April müsse sich Kiew derzeit doppelt so stark um Hilfszusagen bemühen, sagte er der Nachrichtenagentur Reuters. «Ich sehe viel Müdigkeit, ich sehe viel Schwäche bei unseren Partnern», so Martschenko. Er nennt zwei Hauptgründe. Erstens «eine geopolitische Verschiebung und den internen politischen Kontext in verschiedenen Ländern». Zweitens würden Gespräche vom Konflikt zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas überschattet.
Ungünstiger Zeitpunkt für Kiew
Für die Ukraine, deren monatelange Gegenoffensive nicht greifen will, kommt die Israel-Krise zu einer denkbar ungünstigen Zeit. Kiew braucht mehr Waffen und Geld. Dabei «wird für die Ukraine die Geduld ihrer Verbündeten auf die Probe gestellt», analysiert die «Washington Post», da sich der Konflikt in einen weiteren Winter hineinziehe. Auch innenpolitisch werde die Lage für Präsident Wolodimir Selenski (45) keinesfalls einfacher.
Washington bekräftigt, dass es keinen Widerspruch zwischen Hilfe und Waffen für die Ukraine und auch Israel gebe. «Wir können beides tun und wir werden beides tun», sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin (70) vergangene Woche vor Medien in Brüssel.
Zwei Kriege zur gleichen Zeit?
Die USA, die in Phasen des Ukraine-Kriegs selber Munitionsengpässe beklagten, haben bereits mit der Lieferung von dringend benötigter Munition und militärischer Ausrüstung an Israel begonnen: Luftgestützte präzisionsgelenkte Raketen und Nachschub an Abfangjägern für sein Iron-Dome-System – Militärgerät, das auch die Ukraine dringend brauchen könnte.
Noch dazu haben die USA bis mindestens Mitte November sämtliche militärische Unterstützung an Kiew eingestellt – als Zugeständnis an Konservative, um mit einem Notbudget eine Schliessung der US-Verwaltung zu verhindern.
Bedrängter Selenski
Die Augen der Welt sind derzeit auf Israel und die jeden Moment beginnende Gaza-Invasion gerichtet. Dem ukrainischen Präsidenten Selenski bleibt, an den Durchhaltewillen seiner Bevölkerung zu appellieren.
Seit dem 7. Oktober ist es bereits ruhiger geworden in Kiew, weniger hohe ausländische Besucher werden empfangen. Auch in seiner allabendlichen Rede am späten Sonntag ans Volk musste Selenski wiederholen, was er schon oftmals sagte – als gingen ihm die Optionen aus: «Die Ukraine weiss, wie man stark ist», so Selenski. «Und wir werden standhalten. Wir müssen aushalten und gewinnen. Und das werden wir.»