Je näher der Winter rückt, desto klarer wird: Der Krieg in der Ukraine ist eine grausame Abnutzungsschlacht. Seit Monaten ist die Frontlinie nahezu unverändert. Und das, obwohl beide Seiten ihre Kampfhandlungen in den letzten Wochen enorm hochgefahren haben. Die ukrainischen Streitkräfte kämpfen erbittert um jeden Zentimeter Erde rund um Bachmut, können dort auch einige Ortschaften zurückerobern, wie Daten des US-amerikanischen Thinktanks Institute for the Study of War (ISW) zeigen. Doch wie hoch gewichten Experten solche kleinen Erfolge?
ETH-Militärexperte Marcel Bernis Optimismus ist verhalten. «Die operativen Ziele dieser Gegenoffensive wurden bisher nicht erreicht – auch 120 Tage nach dem Start der Gegenoffensive nicht», bestätigt er im Gespräch mit Blick. Deshalb werden aktuell auch sehr kleine Landgewinne gross verkündet. «Es wird um jeden Meter hart gekämpft – fast erfolglos. Ja, die Ukraine hat langsam Land gewonnen und russische Verteidigungslinien punktuell durchstossen, dies aber zu einem hohen Preis.» Der Grund: Die Ukraine habe die russischen Verteidigungslinien wohl unterschätzt.
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Wie hoch der Preis ist, zeigen die Verluste der Ukraine: US-Beamte, die von der New York Times zitiert wurden, bezifferten die Zahl kürzlich auf 70’000 Tote und bis zu 120’000 Verletzte. Das ist eine erschütternde Zahl für eine Armee, die auf nur eine halbe Million Mann geschätzt wird. Bestätigt sind diese Angaben nicht: Die Ukraine gibt keine offizielle Zahl ihrer Kriegstoten an.
Ukraine muss zurückrudern
Hinzu kommt ein weiteres Problem: der bevorstehende Wintereinbruch und die damit einhergehenden Regengüsse in der Ukraine. «Das Wetter droht die ukrainische Offensive weiter aufzuhalten», so Berni. «Die bevorstehenden Regenfälle erschweren mechanisierte Operationen mit schwerem Gerät – also genau das, was die Ukraine zurzeit bräuchte, um ihren Durchbruch zu erreichen.»
Die Ukraine hat natürlich erkannt, dass ihre hochgesteckten Ziele zum jetzigen Zeitpunkt nicht erreicht werden können. Berni erklärt: «Kiew hat damit begonnen, das Narrativ zu ändern: Wo im Frühling und Sommer noch davon gesprochen wurde, an das Asowsche Meer vorzustossen, spricht man nun lediglich davon, Gebiet zu befreien und Manövrierfähigkeit herzustellen.»
Aufgeben ist keine Option – für niemanden
Aufgeben dürfen die ukrainischen Truppen aber keineswegs. Das hat der letzte Winter gezeigt. Damals ist es der Ukraine nicht gelungen, grosse Fortschritte zu machen. Und Russland hat im Februar eine eigene «Winteroffensive» gestartet, was der Ukraine geschadet hat. Berni erklärt: «Die Ukraine muss den Druck deswegen konstant hochhalten – trotz Wetter. Deswegen gehe ich davon aus, dass die Ukraine ihre Offensive durch den Winter hindurch verfolgen wird.»
Gleichzeitig müssen beide Seiten aber mit ihren Kräften haushalten, merkt Berni an. «Beide Armeen haben Personal und Material verloren. Beide Armeen bereiten sich nun auf den Winter vor. Und beide Armeen realisieren, dass diese Offensive nicht das Ende des Krieges bedeuten wird.» Er vermutet: «Alles deutet darauf hin, dass die Ukraine im nächsten Frühling in eine erneute Offensive gehen will.»
Dafür ist die Ukraine aber auf weitere Unterstützung aus dem Westen angewiesen – beispielsweise aus Deutschland. Seit Monaten bittet die Ukraine um die Lieferung deutscher Taurus-Marschflugkörper. Diese Waffe hat eine Reichweite von mehreren hundert Kilometern und birgt gewaltige Zerstörungskraft – sie wäre eine willkommene Hilfe für die ukrainische Armee im Krieg gegen die russischen Besatzer. Doch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (65) verweigert vorerst eine Lieferung, wie am Donnerstag bekannt wurde.