Stellen Sie sich vor, Sie wären eingeladen, machten sich auf den Weg zu Ihrem Gastgeber – und würden bei Ihrer Anreise von ebendiesem Gastgeber mit schwerem Kriegsgerät beschossen. Nicht gerade die feine Art, aber offenbar genau Wladimir Putins (70) Stil. Der russische Machthaber liess am Freitag mehrere Kinschal- und Kalibr-Raketen auf Kiew abfeuern, ausgerechnet in dem Moment, als Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa (70) auf der Durchreise nach Moskau in der ukrainischen Hauptstadt Station machte.
Ramaphosa und mehrere afrikanische Regierungschefs wollen zwischen den beiden Kriegsparteien Ukraine und Russland vermitteln. Putin hat mit seinen Bombengrüssen klargemacht, was er von all den Friedensbemühungen hält: gar nichts. Die Geschosse wurden übrigens durch westliche Flugabwehrsysteme vom Himmel geholt.
Der Kreml-Chef setzt weiter darauf, das Nachbarland mit seinem Vernichtungskrieg in die Knie zu zwingen. Doch auf dem Schlachtfeld weht der Wind derzeit in eine andere Richtung. Vor einer Woche hat die Ukraine offiziell ihre lang erwartete Gegenoffensive lanciert und in einem ersten Zug mindestens sieben Dörfer befreit. Rund um die Stadt Bachmut sind die Ukrainer mehrere Hundert Meter vorgedrungen. Gebietsgewinne in der Region Saporischschja im Süden des Landes kommen hinzu. Ukraines Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maliar erklärte am Samstag: «Praktisch überall, wo unsere Truppen im Süden angreifen, erzielen sie taktische Fortschritte.»
Selenski zuversichtlich, Experten vorsichtig
Es sind die ersten geglückten Rückeroberungen seit der Befreiung der Stadt Cherson im November. Es sehe «generell positiv aus», trotz erbittertem russischen Widerstand, sagte auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (45) in einem Interview mit dem amerikanischen TV-Sender NBC News am Freitag. Aber es sei «sehr, sehr schwierig».
Militärexperten warnen vor verfrühter Euphorie. «Der operative Durchbruch der Ukrainer durch die russischen Stellungen ist noch in weiter Ferne», sagt Strategieexperte Marcel Berni (35) von der ETH-Militärakademie zu SonntagsBlick. Die Hauptangriffsachsen im Donbass und in der südostukrainischen Region Saporischschja hätten bislang nur begrenzt Schwung aufgenommen.
Wann, wo und ob die ukrainische Gegenoffensive überhaupt zum Erfolg wird, lasse sich in dieser frühen Phase noch nicht sagen, betont auch Niklas Masuhr (30), Militärexperte am Center for Security Studies der ETH. «Vieles ist aktuell anekdotisch. Wir sehen nur sehr selektive Bilder.»
Verspätung eines Generals kostet mehr als 100 Russen das Leben
Fotos von kampfunfähig geschossenen deutschen Leopard-2- und amerikanischen Bradley-Panzern zum Beispiel. Die Ukrainer verloren die Fahrzeuge in den ersten Tagen der Gegenoffensive. Moskaus Propaganda schlachtet die Aufnahmen des ausgebrannten Nato-Kriegsgeräts genüsslich aus. «Die Russen haben uns diese Bilder jetzt sicher tausendmal aus zehn verschiedenen Perspektiven gezeigt», spottete US-Verteidigungsminister Lloyd Austin (69) bei einem Nato-Treffen am Donnerstag.
Amerika werde die zerstörten Fahrzeuge ersetzen. Zudem hätten Trainingsflüge ukrainischer Piloten auf F-16-Kampfjets begonnen. Ob und wann die Ukraine die US-Flieger erhält, dürfte frühestens am Nato-Gipfel in der litauischen Hauptstadt Vilnius Mitte Juli klar werden.
Klar ist schon jetzt, dass die ukrainischen Truppen amerikanisches Kriegsgerät äusserst effektiv einzusetzen wissen. Das zeigte ein Angriff mit US-Himars-Raketen Mitte Woche auf eine russische Truppenstellung unweit der Donbass-Stadt Kreminna, bei dem nach ukrainischen Angaben rund 100 Soldaten getötet und weitere 100 verletzt worden seien. Die russischen Truppen warteten offenbar im Freien auf die Ansprache eines hohen Militärs, der sich um Stunden verspätet haben soll.
Doch Himars-Treffer allein werden nicht ausreichen, um die massiven Verteidigungswälle, Minenfelder und Abwehrstellungen zu überwinden, die die Russen in den Winter- und Frühlingsmonaten entlang der gesamten Front errichtet haben. Experten rechnen mit extrem verlustreichen Schlachten, um die ukrainische Offensive tatsächlich zum Erfolg zu bringen.
Hier könnte es zu Überraschungen kommen
Damit rechnet offenbar auch die Staatsführung in Moskau. Die Duma, das Unterhaus des russischen Parlaments, will Häftlingen einen leichteren Eintritt in den Militärdienst ermöglichen und für Soldaten Immunität gegen Strafverfolgung während ihrer Dienstzeit erlassen. Alles Massnahmen, die den Zustrom an neuen Rekruten für Putins Krieg garantieren sollen.
Vorläufiges Fazit nach einer Woche Gegenoffensive: Vieles bleibt unklar, kühne Überraschungsangriffe wie bei der erfolgreichen Blitz-Offensive der Ukrainer rund um die Millionenstadt Charkiw im Herbst sind bislang ausgeblieben. Doch Überraschungen seien jederzeit möglich, sagt ETH-Experte Marcel Berni. «Frische ukrainische Reserven könnten etwa in der ostukrainischen Region Luhansk oder im Süden bei Cherson vorstossen, sofern die Überschwemmungen vom gesprengten Kachowka-Staudamm passierbar werden.»
Im ersten Fall könnten die Ukrainer bis zur russischen Grenze vorstossen, im zweiten bestenfalls den russischen Zugang zur Krim abschnüren und bis zum Asowschen Meer gelangen. «Davon sind die ukrainischen Streitkräfte aber noch weit entfernt.» Ein rasches Ende des Krieges ist auch fast 500 Tage nach dem Start des russischen Angriffs nicht in Sicht.