Quadratkilometer um Quadratkilometer holt sich die ukrainische Armee ihr von Russland besetztes Territorium zurück. Seit bald zwei Wochen läuft die lang erwartete Gegenoffensive.
Das ukrainische Militär hat den russischen Besatzungstruppen bereits hohe Verluste zugefügt – zumindest behauptet das die Regierung. Am 8. Juni behauptete die Ukraine, bereits 2000 russische Soldaten getötet zu haben. Zeitgleich sprach Russland von 30 zerstörten ukrainischen Panzern und 350 toten Männern.
Drei Achsen – wohin geht die Gegenoffensive?
Angefangen hat die Offensive denkbar schlecht. In der Ortschaft Orichiw in der Oblast Saporischschja hat das ukrainische Militär vor einer Woche mehrere deutsche Leopard-Panzer im Gefecht verloren. Militärbeobachter vermuten zudem hohe Verluste von Bradley-Fahrzeugen.
Aber: In den vergangenen Tagen schien es, als ob es der Ukraine Stück für Stück gelingt, russisch besetztes Gebiet im Osten der Ukraine zurückzuerobern. Und das vor allem im Süden. Laut dem renommierten Militäranalysten Konrad Muzyka ist es den ukrainischen Streitkräften innert vier Tagen gelungen, 60 Quadratkilometer ihres Landes wieder unter ukrainische Fahne zu bringen.
Laut «The Economist» kristallisieren sich drei Fronten heraus, entlang derer die Ukraine kämpft. Eine seit Langem bestehende Achse führt nach Osten, in das Gebiet um die heftig umkämpfte Stadt Bachmut und in die Oblast Luhansk. Dort haben russische Truppen am meisten Gebiete besetzt, die die Ukraine zurückerobern möchte.
Eine neue Achse zielt von Wuhledar (Oblast Donezk) aus nach Süden und Südosten. Dort kam es bereits Anfang Mai zu heftigen Kämpfen. Eine dritte Achse wird, so die Experten, im Süden der Ukraine eröffnet und erstreckt sich von Saporischschja Richtung Süden. Damit wollen sie sich wohl den Weg in Richtung Melitopol und Krim freischlagen.
Kämpfe werden noch härter werden
Die bisherigen Kämpfe waren hart – und könnten schon bald noch härter werden. Denn trotz ihres Vormarschs nach Osten sind die Ukrainer noch immer rund 20 Kilometer von den ersten russischen Verteidigungsanlagen entfernt. Russland hat Tausende von Verteidigungsstellungen vom Rande Westrusslands bis zur besetzten Krim am Schwarzen Meer eingerichtet, darunter Minenfelder, Panzerabwehrgräben, Reihen von Betonbarrikaden und Schützengräben mit «Drachenzähnen».
Das ist nicht die einzige Herausforderung, auf die die Ukrainer stossen werden, wie der britische Militärexperte Jack Watling in einer Analyse schreibt. Je tiefer sie in russisch besetztes Gebiet vordringen, desto näher kommen sie an russische Artilleriestellungen – und immer weiter weg von ihrer eigenen Luftverteidigung. Heisst: Sie sind härteren Angriffen ausgesetzt, während sie sich selbst immer schlechter verteidigen können.
Trotz Herausforderungen hat die Ukraine das Zeug, mit ihrer Gegenoffensive grosse Erfolge zu verbuchen. Die nötigen Mittel haben sie: Panzer, Langstreckenraketen, Marschflugkörper und gut ausgebildete Soldaten.
Wenig Informationen über Gegenoffensive
Darum muss die Ukraine darauf achten, nicht all ihr Potenzial und die guten Waffen aus dem Westen schon jetzt zu verpulvern, wie Analyst Watling betont. Deshalb kämpfen die Ukrainer auch noch nicht mit voller Kraft, wie der bekannte Militärstratege Frank Sauer auf Twitter festhält.
Und auch wenn die Ukraine Erfolge in der Gegenoffensive erzielen und faktisch über Russland siegen wird: Der Kreml allein wird entscheiden, ob er eine Niederlage einräumen will oder nicht. Wahrscheinlicher ist eine weitere Eskalation des Kriegs.
Bei allen Berichten über die Gegenoffensive darf aber nie vergessen werden: Es herrscht auch ein Informationskrieg. Zu betonen ist allerdings, dass sich die Informationslage seit Beginn der Offensive geändert hat. Die Ukraine ist sehr viel schweigsamer, von russischer Seite hört man vor allem Desinformation. Einschätzungen und das Überprüfen von Aussagen beider Seiten werden dadurch noch schwieriger als zuvor.