Gegenoffensive durchbricht Russen-Verteidigung in Saporischschja
«Die Ukrainer wollen einen Keil in die russisch besetzten Gebiete im Süden treiben»

Am Samstag vermelden die Ukrainer einen Durchbruch im festgefahrenen Stellungskrieg im Süden des Landes. Ist das die Entscheidung im Krieg? Militärexperte ordnet ein.
Publiziert: 04.09.2023 um 17:06 Uhr
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Aktualisiert: 05.09.2023 um 15:26 Uhr
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Militär-Experte Marcel Berni von der ETH Zürich.
Foto: Zvg
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Sven ZieglerRedaktor News

Seit Monaten versucht die Ukraine mit einer Gegenoffensive die Russen zurückzudrängen. Jetzt ist Kiews Truppen ein erster grosser Erfolg gelungen. Laut Angaben der ukrainischen Generäle haben Soldaten Russlands erste Verteidigungslinie in der Nähe der umkämpften Stadt Saporischschja durchbrochen. Der Brigadegeneral Oleksandr Tarnawski sagte, man befinde sich «zwischen der ersten und zweiten Verteidigungslinie der Russen». Die ukrainischen Kämpfer drängten nun auf beiden Seiten der Bresche vor und festigten so die Kontrolle über das in den jüngsten Gefechten eroberte Gebiet.

Die Nachricht geht um die Welt. Ist das die Entscheidung im festgefahrenen Stellungskrieg? Vermutlich noch nicht. «Es ist eine dringend erwartete Erfolgsmeldung, die man allerdings nüchtern betrachten sollte», sagt Marcel Berni (35), Strategieexperte an der ETH-Militärakademie, zu Blick. «Es ist ein taktischer Erfolg, aber noch kein riesiger, strategischer Gewinn.»

Bei den Botschaften der ukrainischen Generäle schwinge auch Propaganda mit. Der Westen und auch die ukrainische Bevölkerung habe eine gewisse Erwartungshaltung, die befriedigt werden müsse, so Berni. In den vergangenen Wochen sei der Krieg festgefahren gewesen, nur wenige militärische Erfolge konnten verbucht werden. «Nun ist den Ukrainern ein Erfolg an der wichtigen Südfront gelungen. Dass das entsprechend verbreitet wird, ist klar.»

«Die russischen Stellungen im Süden sind extrem stark»

Der Militärexperte geht davon aus, dass der ukrainische Vorstoss nur ein erster Erfolg ist. «Ich denke, wir werden in den kommenden Wochen und Monaten mehr ukrainische Erfolge beobachten, weil der wichtige erste Teilerfolg nun gelungen ist.» Das Hauptziel der Ukrainer, so schätzt Berni, sei nach wie vor der Durchmarsch bis ans Asowsche Meer. «Die Ukrainer wollen einen Keil in die russisch besetzten Gebiete im Süden treiben und so die Truppenversorgung und die militärische Logistik unterbrechen.»

Dass dies noch vor dem Winter passiert, glaubt Berni aber nicht. «Die russischen Stellungen im Süden sind stark. Derzeit dringen die Ukrainer Richtung Tokmak vor – dort dürften sich die Kampfhandlungen in den kommenden Wochen intensivieren.» Die Stadt mit rund 32'000 Einwohnern ist von hohem operativen Wert, sie gilt als Verkehrsknotenpunkt Richtung Süden und Osten und wird von den Russen besetzt. Berni warnt aber: «Einen schnellen Erfolg werden die Ukrainer dort vermutlich nicht erzielen können. Die Stadt gleicht einer Festung.»

Deswegen, so glaubt Berni, sei ein grosser Durchmarsch Richtung Süden vor dem Winter kaum mehr möglich. «Allerdings gilt es zu bedenken, dass die Ukrainer im vergangenen Herbst auch plötzlich durchschlagende Erfolge erzielen konnten. Genau vorhersagen lässt sich der Krieg nie – aber ich denke, dass vor dem Winter vor allem kleinere taktische Erfolge die Berichterstattung prägen werden.»

Ruhe an anderen Fronten

Während die Front im Süden des Landes derzeit hart umkämpft ist, ist von der Front im Osten nahe der Stadt Bachmut wenig zu hören. Berni geht davon aus, dass dies mit Absicht geschieht. «Im Osten scheint der Fokus beider Parteien derzeit darauf zu liegen, die Fronten zu sichern. Die Ukrainer wollen wohl die Logistik der Russen im Osten erschweren, ohne dass sie grosse Geländegewinne verbuchen können. So können sie sich vor allem auf die Südfront konzentrieren.»

Dass sich das Geschehen vor allem auf eine Front konzentriere, berge aber auch Gefahren für beide Seiten. «Das Gros der Truppen und Waffen befindet sich im Süden. Damit werden die anderen Fronten geschwächt. Die Ukraine ist sicherlich im Norden und Osten verwundbarer und muss aufpassen, dass die Russen dort nicht plötzlich vorstossen», analysiert Berni. «Andererseits müssen auch die Russen aufpassen, dass die Ukrainer den starren Stellungskrieg im Norden und Osten nicht in einen Bewegungskrieg verwandeln können, sonst droht auch an diesen Fronten der Durchbruch.»

Der Vorstoss im Süden sei moralisch für die Ukrainer äusserst wichtig, auch wenn es noch kein riesiger Erfolg sei. «Er gibt ihnen grössere militärgeografische Möglichkeiten. Die Ukrainer sehen jetzt quasi direkt auf die Stadt Tokmak – und haben so das nächste Zwischenziel im Blick.»

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