Die ukrainische Führung befindet sich an einem schicksalsträchtigen Punkt. Nach einem Jahr und neun Monaten Krieg häuft sich die Kritik an der militärischen Strategie des Landes und an Präsident Wolodimir Selenksi (45). Armeeoberbefehlshaber Waleri Saluschni (50) sagte diese Woche in einem Artikel von «The Economist», er sehe einen «festgefahrenen Krieg» mit Russland auf die Ukraine zukommen. Selenski wies die Befürchtungen daraufhin zurück und erklärte, dass keine «Pattsituation» existieren würde. Für viele Beobachter ein Zeichen für eine Kluft zwischen der militärischen und der zivilen Führung in einer ohnehin schon schwierigen Zeit für die Ukraine. Laut einem Bericht der «New York Times» wiesen die gegenseitigen Rügen gar auf eine mögliche Spaltung der Führungsriege hin.
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Saluschnis Äusserungen zu einem «festgefahrenen» Krieg würde «die Arbeit des Aggressors erleichtern», kommentierte Igor Schowkwa, stellvertretender Leiter des Präsidialamtes, Saluschnis Artikel am Samstag. «Oberbefehlshaber sollten nicht öffentlich machen, was an der Front passiert», führte Schowkwa weiter aus. Saluschni hatte zuvor angegeben, keine der beiden Seiten würden weiterkommen, da sie über die gleichen technologischen Möglichkeiten verfügen.
Kam es am Freitag beinahe zur Spaltung?
Die «New York Times» sieht Anzeichen dafür, dass es am Freitag beinahe zu einer Spaltung der militärischen und zivilen Führung gekommen ist. Denn: General Viktor Horenko, ein hoher Stellvertreter Saluschnis, wurde am Freitag ohne Angabe von weiteren Gründen entlassen. Dies habe die westlichen Verbündeten vor den Kopf gestossen. US-Militärs, die mit Horenko zusammen gearbeitet haben, beschreiben den gegenseitigen Austausch als «eng und effektiv». Nach den Äusserungen von Oberbefehlshaber Saluschni bekräftigte das Weisse Haus seinen Beistand für die Ukraine. Das Land habe nur Erfolgschancen, wenn es weiterhin von den USA unterstützt werde.
Horenkos Entlassung habe auch in den eigenen Reihen für Verwunderung gesorgt, schreibt die Zeitung. Zwar habe die Entscheidung, einen amphibischen Angriff über den Fluss Dnipro in der Südukraine durchzuführen, nicht überall Begeisterung ausgelöst, die Entlassung käme aber doch ohne Vorankündigung.
«Die Leute sind müde»
Das Zerwürfnis kommt just zu der Zeit, in der die Ukraine militärisch und diplomatisch zu kämpfen hat. Die Kämpfe an der Front haben keine deutlichen Erfolge hervorgebracht und schwere Verluste auf beiden Seiten nach sich gezogen. Ausserdem sieht sich die Ukraine im Osten mit einer erhöhten Anzahl von russischen Angriffen konfrontiert. Obwohl Selenski nichts von einer «Pattsituation» wissen will, attestiert er eine Kriegsmüdigkeit: «Die Leute sind müde, nach einer so langen Zeit. Egal, in welcher Position sie sich befinden und das ist verständlich», sagte er am Samstag.
Hinzu kommt: Die Kriegsmüdigkeit macht sich auch bei den Partnern breit. Die Skepsis gegenüber der Ukraine-Hilfen hat in einigen europäischen Hauptstädten und auch bei den Mitgliedern der Republikanischen Partei in den USA zugenommen. Die ukrainische Führung ist zudem besorgt darüber, dass sich die Aufmerksamkeit der westlichen Verbündeten auf den Konflikt zwischen Israel und der Hamas verlagert hat: «Der Krieg im Nahen Osten, dieser Konflikt nimmt den Fokus weg», sagte Selenski weiter.