In der Ukraine macht sich Resignation breit
«Wir verlieren den Krieg»

Der ukrainische Kriegschef hat sich überraschend deutlich zur schwierigen Lage an der Front geäussert. Die Gegenoffensive stecke fest, er erwarte keinen Durchbruch. Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird er für die Ukraine. Auch Soldaten resignieren.
Publiziert: 05.11.2023 um 01:04 Uhr
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Aktualisiert: 05.11.2023 um 08:24 Uhr
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20 Monate nach Beginn des Krieges steht rund ein Fünftel der Ukraine unter russischer Besatzung. Doch niemand bleibe von einem Sieg so überzeugt wie er, sagte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski dem Magazin «Time».
Foto: time.com
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Daniel KestenholzRedaktor Nachtdienst

Auf Siegesparolen folgen in der Ukraine Durchhalteparolen. Jetzt wird sogar offener über eine Niederlage im Krieg gegen die russischen Invasoren gesprochen. Ein weiterer zermürbender Winter steht bevor. Bewegungen an der Front werden nach längerem Patt fast vollständig zum Stillstand kommen. Unter ukrainischen Soldaten macht sich Ernüchterung breit.

«Ich sage das jetzt schon seit einiger Zeit. Schritt für Schritt verlieren wir den Krieg.» Dies sagte ein Soldat der Nachrichtenagentur AFP in einem Telefoninterview von der Front. «Je länger dieser stillstehende Krieg andauert, desto schlimmer ist es für uns.»

Seit November vor einem Jahr hat sich die Frontlinie zwischen den ukrainischen und russischen Truppen im Osten und Süden des Landes kaum verändert. Dies veranlasste General Waleri Saluschni (50), Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Ukraine, diese Woche zu den Worten, dass die Kriegsparteien entlang der ausgedehnten Front in eine Sackgasse geraten seien.

Zermürbung an allen Enden

Die gross angekündigte Gegenoffensive mit viel neuem Waffenmaterial und neuen Rekruten konnte nur geringen Boden gewinnen – maximal 17 Kilometer an einer Stelle. «Wie im Ersten Weltkrieg haben wir ein technologisches Niveau erreicht, das uns in eine Pattsituation bringt», sagte Saluschni dem britischen Magazin «Economist». «Es wird höchstwahrscheinlich keinen grossen und schönen Durchbruch geben.»

Der Krieg werde «positionell» – mit anderen Worten: Er steckt fest. Auch seine frühere Einschätzung, er könne Russland durch das Ausbluten seiner Truppen aufhalten, habe sich als Illusion erwiesen. «Das war mein Fehler», so der General. «Russland hat mindestens 150'000 Tote. In jedem anderen Land hätten solche Verluste den Krieg gestoppt.»

Jetzt versucht Saluschni verzweifelt, einen Krieg in den Schützengräben zu verhindern. «Das grösste Risiko eines zermürbenden Grabenkriegs besteht darin, dass er sich über Jahre hinziehen und den ukrainischen Staat zermürben kann.» Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird es, ihn durchzuhalten. Saluschni: «Früher oder später werden wir feststellen, dass wir einfach nicht genug Leute haben, um zu kämpfen.»

Hochrote Köpfe in Kiew

Diese überraschende und ungewöhnlich offene Einschätzung des obersten Militärführers der Ukraine sorgte für hochrote Köpfe im Land. Igor Schowkwa (44), Vizechef von Kiews Präsidentenbüro, warf Saluschni vor, Unterstützer im Westen zu verunsichern. Im nationalen Fernsehen nervte sich Schowkwa am Freitag: «Das Letzte, was ich tun würde, wäre, in den Medien darüber zu sprechen, was an der Front passiert und passieren könnte.» Saluschnis Enthüllungen würden Russland direkt in die Hände spielen.

Jetzt erhalte er Anrufe von höchsten Stellen aus dem Westen und werde panisch gefragt: «Was soll ich meinem Staatsoberhaupt melden? Seid ihr wirklich in einer Sackgasse?»

Hoffen auf modernere Waffen

Als Reaktion auf die ungeschönten Äusserungen Saluschnis erklärte Präsidentenberater Mychajlo Podoljak (51), das Land stehe vor einem Wendepunkt und müsse sich für eine Strategie entscheiden, wie es den Konflikt mit Russland gewinnen könne. Dabei räumte Podoljak gegenüber der AFP selber ein, dass diese Phase der Kämpfe auf «Schwierigkeiten» gestossen sei.

Und was wären Saluschnis Lösungsvorschläge gegen die für viele ausweglose Situation? Innovationen im Bereich der Drohnen- und Anti-Artillerie-Technologie sowie verbesserte Entminung. Es gibt jedoch keine Anzeichen dafür, dass ein technologischer Durchbruch, sei es bei Drohnen oder in der elektronischen Kriegsführung, unmittelbar bevorsteht.

Selenski: «Niemand glaubt so sehr an unseren Sieg wie ich. Niemand.»

Die Ukraine will von ihren westlichen Verbündeten F-16-Kampfjets und Langstreckenraketen, während die Infanterie nicht gegen die tiefen russischen Verteidigungslinien ankommt. «Wir haben zu viele Probleme», sagte ein weiterer Soldat gegenüber AFP. «Erstens, die Qualität der Ausbildung unserer Soldaten. Zweitens haben wir nicht genug Waffen oder Artillerie», so der 33-Jährige. «Uns fehlt es an Artillerie, und es wird immer schlimmer.»

Auch um den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (45) wird es immer einsamer. Das Magazin «Time» widmet ihm das Cover – das Selenski mit dem Rücken zur Kamera zeigt und ihn mit grossen Lettern zitiert: «Niemand glaubt so sehr an unseren Sieg wie ich. Niemand.»

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