«Er macht sich etwas vor»
Selenski beharrt auf Sieg – und erntet Kritik von Beratern

Der Westen ist kriegsmüde. Das bemerkt auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski. Doch er ist nicht bereit, seine Bedingungen für ein Kriegsende anzupassen. Das sorgt bei seinen Beratern für Kritik.
Publiziert: 31.10.2023 um 19:37 Uhr
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Aktualisiert: 31.10.2023 um 19:41 Uhr
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Selenskis Berater werfen dem Präsidenten vor, die Realität aus den Augen zu verlieren.
Foto: IMAGO/ZUMA Wire

«Dieser Sieg wird die Welt verändern», sagte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (45) am 8. Februar er nach Grossbritannien reiste, um seinen Amtskollegen Rishi Sunak (41) um Unterstützung zu bitten. Sieg bedeutet für Selenski, die russischen Besatzer aus der Ukraine zu vertreiben und die territoriale Integrität wiederherzustellen. Selenski reist seit Beginn des Krieges am 24. Februar 2022 immer wieder zu möglichen Unterstützern im Westen. Mit dem Ziel, der Welt die Notwendigkeit nach Waffen und finanzieller Unterstützung deutlich zu machen. Doch nach zwanzig Monaten Krieg werden die Rufe nach einem Waffenstillstand lauter. 

Als Selenski im September in die USA reiste, die die ukrainische Armee mit den grössten Hilfspaketen unterstützt, war die Stimmung anders als sonst. Selenskis Worte wirkten steif, er wirkte müde davon, sich immer wieder wiederholen zu müssen. «Niemand glaubt so sehr an unseren Sieg wie ich. Niemand», sagte Selenski nach dem Besuch in einem Interview mit der «Time». Die Verbündeten zweifeln zunehmend an einem möglichen Sieg. 

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«Das Erschreckendste ist, dass sich ein Teil der Welt an den Krieg in der Ukraine gewöhnt hat», erklärt Selenski. Die Kämpfe an der Front sind Alltag geworden. Die Welt ist kriegsmüde. Doch während das Interesse an der Schlacht sinkt, finden weiter bittere Kämpfe statt. Ein Fünftel der Ukraine ist unter russischer Besatzung. Der erhoffte grosse Sieg dank Gegenoffensive blieb bislang aus. 

Europa und USA sind erschöpft vom Krieg

Nach Angaben von Reuters wollten im Sommer, vor der Gegenoffensive 65 Prozent des amerikanischen Kongresses Waffen in die Ukraine liefern. Mittlerweile sind es nur noch 41 Prozent. «Die Erschöpfung über den Krieg rollt wie eine Welle an. Man sieht es in den Vereinigten Staaten und in Europa», beschreibt Selenski die Situation.

Für die sinkende Unterstützung gibt es drei Gründe. Erstens wird Selenski vorgeworfen, Korruption innerhalb der Regierung zu lange geduldet zu haben. Zweitens sind viele Verbündete unzufrieden mit den Resultaten der Gegenoffensive und zweifeln am Nutzen der Unterstützung. Und drittens ist der Krieg in Europa Alltag geworden. Mit dem Krieg im Nahen Osten zwischen Israel und der Hamas ist es noch schwieriger geworden, die Aufmerksamkeit auf die Ukraine zu lenken.

«Wir werden nicht gewinnen»

Das weiss Selenski, weswegen sich sein Verhalten verändert hat. Er hole sich täglich die neusten Lageinformationen, verteilt Befehle und verschwindet wieder, erklären seine Berater. Selenskis Enttäuschung über den Westen sei gross. «Sie haben ihm nicht die Mittel gegeben, den Krieg zu gewinnen, sondern nur die Mittel, ihn zu überleben», sagt einer der Berater zur «Time».

Die langjährigen Mitarbeiter Selenskis befürchten einen Realitätsverlust. «Er macht sich etwas vor», sagt ein Berater frustriert. Und: «Wir haben keine Optionen mehr. Wir werden nicht gewinnen. Aber versuchen Sie mal, ihm das zu erklären.» Über eine Sache darf man in Selenskis Büro nicht sprechen: einen möglichen Waffenstillstand mit Russland. Denn dieser würde voraussichtlich mit der Abgabe an Territorien einhergehen – was die Mehrheit der Ukrainer eher ablehnt. Für den ukrainischen Präsidenten kommt ein solcher Schritt nicht infrage.

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«Für uns würde das bedeuten, diese Wunde für künftige Generationen offenzulassen», erklärt Selenski. Und: «Wir bleiben dann mit dieser explosiven Kraft zurück und verzögern nur ihre Detonation.» Denn ein Waffenstillstand birgt auch das Risiko, dass Russland diesen bricht. «Ein dritter Weltkrieg könnte in der Ukraine beginnen, sich in Israel fortsetzen, von dort nach Asien weiterziehen und dann irgendwo anders explodieren», warnt er und betont, weshalb der Krieg in der Ukraine die ganze Welt betrifft. Doch diese Warnungen stossen auf taube Ohren.

Krieg zu pausieren ist keine Option

«Den Krieg einzufrieren, bedeutet für mich, ihn zu verlieren», sagt Selenski und hält hartnäckig am Sieg fest. Die Unterstützung für den ukrainischen Präsidenten sinkt laut einer Umfrage der nicht staatlichen Forschungsorganisation «Rating» auch in der eigenen Bevölkerung. Die Gesamtunterstützung liegt bei 82 Prozent, bei der letzten Befragung lag sie noch bei 91 Prozent. Auch wenn dieser Wert immer noch hoch ist, zeigt der Verlust von neun Prozent Zustimmung die Verunsicherung im Volk.

Mit Hinblick auf die bevorstehenden Angriffe auf energetische Infrastruktur äussern die Berater im Büro des Präsidenten Sorge. Putin will die ukrainische Bevölkerung erneut in einen kalten, dunklen Winter stürzen. «Letztes Jahr gaben die Leute den Russen die Schuld», sagt ein Insider. Und fährt fort: «Diesmal werden sie uns die Schuld geben, weil wir nicht gut genug vorbereitet waren.» (jwg)

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