Die Sprache des Krieges in der Ukraine findet Worte des Schreckens und der Angst, die normale Formulierungen niemals wiedergeben können. «Blut, Scheisse und Zucker» waren die ersten Begriffe, die Shaman, ein Unteroffizier der ukrainischen Spezialeinheiten, nach seiner Rückkehr von der Front auf mich losliess.
Blut, weil sein Kommando, das im gepanzerten Geländefahrzeug gestrandet war, weil ein Reifen platzte, eines seiner Mitglieder verloren hatte. Scheisse, weil die Kämpfe heftig sind, viel heftiger, als die Führung in Kiew erwartet hatte. Zucker, weil alle immer noch von Sieg und Frieden träumen.
Nur weiss leider niemand, wie dieser Zucker schmeckt. Für die bis an die Zähne bewaffneten Wehrpflichtigen mit Dolch am Gürtel und Granaten an der kugelsicheren Weste bedeutet jedes zurückeroberte Dorf vielmehr den möglichen Tod.
Besser verschanzte und besser ausgerüstete Russen
«Die Orks, die wir vor uns haben, sind nicht mehr die, die im Herbst 2022 vor uns flohen», räumt Shaman ein. Das Gesicht vom Schmutz gezeichnet, fährt er fort: «Sie sind viel besser in ihren Gräben versteckt und besser ausgerüstet.» Orks: «Wenn Sie dieses Wort hören, bedeutet das in der Ukraine, dass Sie sich der Front nähern.»
Mit «Orks» sind die russischen Soldaten gemeint, die mit den brutalen Kreaturen aus «Herr der Ringe» gleichgesetzt werden. Die Orks hätten Pjotr, einen der Soldaten der Gruppe, fast überwältigt, als er im Fahrzeug schlief und sein Maschinengewehr zwischen den Beinen eingeklemmt war. «Ich dachte, er sei tot. Ein Scharfschütze hatte ihn ins Visier genommen. Die Kugel zerfetzte den nahen Stamm eines Baums», erzählt Shaman. Zur gleichen Zeit brach ein Artilleriegewitter los. Ukrainische Aufsitzkanonen, die sich in den nahe gelegenen Wäldern versteckten, feuerten auf die russischen Stellungen hinter dem Dorf Welyka Nowosilka.
Die laufende Gegenoffensive trägt die Züge eines zunehmend hybriden Krieges. In der Mehrzahl sind es Fernkämpfe, die mit Kanonen, Panzern, Drohnen und Mörsern ausgefochten werden. Darauf folgt gelegentlich, Dorf für Dorf, der Angriff der Infanterie, der von den härtesten Kräften der ukrainischen Armee gestartet wird.
Näher an Bachmut herankommen
Mein Ziel war es, so nah wie möglich an Bachmut heranzukommen, die Märtyrerstadt, die nach monatelangen erbitterten Kämpfen von den Milizen der russischen Gruppe Wagner erobert worden war. Zunächst fuhren wir auf einer Strasse, die in fast direkter Linie von Druschkiwka, dem letzten noch in Betrieb befindlichen Bahnhof nach Kramatorsk, dorthin führt. Über etwa zehn Kilometer war kein anderes Fahrzeug zu sehen. Eine Geisterstrasse. Ein in der Sonne erstarrtes Asphaltband, eingerahmt von Bäumen.
Dann eine Abzweigung und eine Sperre der ukrainischen Armee, die uns daran hindert, weiterzufahren. Wie für viele andere Journalisten auch sind die Feldwege ein Muss und ein Risiko. Zunächst gilt es, das richtige Dorf per GPS zu finden. Den Pfad, der um die Checkpoints herumführt, zu erkennen. Dann über die Felder zu marschieren, ohne zu wissen, was man finden wird, und den Spurrillen auszuweichen, die durch vorbeifahrende Panzer und Truppentransporter verursacht worden sind. Stets in Gefahr von Minen, Strassensperren und Drohnen, die den Himmel absuchen.
Samstag, 17. Juni, gegen 15 Uhr. Wir stehen im Zentrum von Tschassiw Jar, einem der wichtigsten Stützpunkte der Gegenoffensive, mit der Putins Truppen aus ihren verschanzten Stellungen vertrieben werden sollen. Die ersten russischen Verteidigungsanlagen liegen 15 Kilometer entfernt. Bachmut liegt dort, in Reichweite der am weitesten vorgeschobenen Mörser der ukrainischen Armee. Die Stadt ist verloren, doch sie zieht weiterhin den Tod an.
Das nahe gelegene Tschassiw Jar ist wie Bachmut ein Land «aus Blut und Dreck». Dort kam am 9. Mai Arnan Soldin ums Leben, der Videokoordinator der Agence France-Presse. Ein Hagel russischer Granaten hatte das Rathaus, die frühere Kinderkrippe, die ehemalige Krankenstation und alles, was noch stand, aufgesprengt.
Sergei, einer der ukrainischen Wachposten, sitzt vor dem Eingang des einzigen noch geöffneten Lebensmittelladens, deutet auf einen Balkon im dritten Stock eines von Einschlägen übersäten Gebäudes. Ein alter Mann, der gerade ins Haus geeilt war, beobachtet uns von dort.
Sergei ist vor zwei Monaten vom Kommandotraining in Grossbritannien zurückgekehrt. Auf seinem Handybildschirm zeigt er die Bilder davon. Der Ort bleibt geheim. Identität und Nationalität der Ausbilder ebenfalls: «Ich habe dort gelernt, im Schlamm, bei strömendem Regen und inmitten von Ruinen zu kämpfen», ärgert sich Sergei. «Aber was ich nicht gelernt habe, ist, die Arschlöcher zu finden, die unsere Stellungen identifizieren und sie an die Russen weitergeben. Und die gibt es, glauben Sie mir. Die sind der Grund dafür, dass wir sterben.»
Der Alte ist wieder aufgetaucht
Ich starre auf den Balkon, wo der Alte wieder aufgetaucht ist. Bis auf ihn gleicht Tschassiw Jar einem Friedhof unter freiem Himmel, auf dem die einzigen Spuren von Leben die Soldaten sind, die sich in ihren getarnten Bunkern verschanzt haben, und eine letzte Handvoll Anwohner. Nun kommt doch noch einer von ihnen auf seinem Fahrrad zu dem behelfsmässigen Lebensmittelladen, dessen Fenster gesprengt und durch Teile einer Plastikplane ersetzt wurden.
Es gibt nichts Schlimmeres in der Ukraine, als in den Augen des Gegenübers Unverständnis zu lesen, das sich in Form einer Anklage ausdrückt. Pjotr sagt, er sei 76 Jahre alt. Bachmut war «seine» Stadt. Er trägt weder einen Helm noch eine kugelsichere Weste. Er lebt inmitten von Soldaten und schickt gleich voraus, dass er Journalisten hasst: «Sie sind der Grund, warum wir bombardiert werden. Bachmut, Ihr seid es. Putin wollte einen Sieg für die Medien in der ganzen Welt.»
Einschläge von Granaten bringen den provisorischen Tisch zum Wackeln, unter dem zwei streunende Hunde Zuflucht gefunden haben. Sollen wir uns in Deckung werfen? Die drei erschöpften Soldaten vor mir ziehen es vor, ihre Limonade zu trinken. Sie haben die ganze Nacht eines der umliegenden Dörfer durchkämmt und dreimal Artillerieunterstützung angefordert. Was haben sie gefunden? Sie zeigen zwei «Trophäen» im Kofferraum ihres Autos: einen russischen Helm und eine kakifarbene Jacke mit dem Z, dem Signet der russischen Streitkräfte. Die Erde bebt wieder: «Ihr werdet sehen, man gewöhnt sich an alles. Dieser Krieg wird uns sowieso alle verschlingen.»
Die Gegenoffensive ist von Müdigkeit und Abnutzung geprägt
Ich sehe die Angst auf ihren Gesichtern. Ich sah sie zuvor auf den Gesichtern ihrer Frauen und Freundinnen, die in Kramatorsk aus dem Zug gestiegen waren, um sie im Fronturlaub zu treffen. Aus ihrer Perspektive sieht die ukrainische Gegenoffensive anders aus als die Verlautbarungen des Generalstabs: nach Müdigkeit, Abnutzung und dem Wunsch, dass dieses Gemetzel aufhört.
15 Kilometer von Bachmut entfernt kommt das Wort «Sieg» aus dem Mund aller ukrainischen Soldaten, die ich befragt habe. Doch ihre Blicke sagten etwas anderes. Viele nehmen Drogen, ebenso wie die russischen Soldaten. Und das Verbot von Alkohol in Kampfgebieten verhindert nicht, dass er dennoch in Umlauf kommt.
Die westliche Ausrüstung – amerikanische Bradley-Panzer, deutsche Leopard 2 oder französische Caesar-Kanonen – wurde weiter nach Süden geschickt, auf die Seite von Orickiw. Hier aber stammen die Haubitzen und Panzer sämtlich aus russischer Produktion. Ich sah Panzersoldaten, die sich ins Unterholz zurückgezogen hatten und auf dem Gerippe eines Fahrzeugs sassen, das den Abschleppdienst erwartete. Ich konnte sehen, wie die Artilleristen auf ihren mit dem Starlink-Satellitennetzwerk verbundenen Tablets ihre nächtlichen Angriffe auf die «Orks» in Bachmut vorbereiteten.
Gibt es Fortschritte? Unmöglich, dies vor Ort zu sagen
Ich weiss nicht, ob die Gegenoffensive Fortschritte macht. Das kann man vor Ort nicht sagen. Selbst akkreditierte Journalisten werden von den am Kampf beteiligten Brigaden ferngehalten. Ich sah in Welyka Nowosilka, wie Bauern erschrocken alte Getreidesilos entdeckten, die von den Bombenangriffen gesprengt worden waren, und wie das Haus eines Bauern von russischen Granaten in Schutt und Asche gelegt wurde.
Welyka Nowosilka ist «frei». Doch ausser einem verirrten alten Mann mit Fahrrad wagt es keiner mehr, dort hinzugehen. Die Ukraine kämpft und träumt immer noch vom Sieg. Doch in den Gräben der Verzweiflung rund um Bachmut überdecken das Blut und die Scheisse des Krieges vorerst den kleinsten Schimmer von Frieden.