Ein 20 Kilometer langer Konvoi aus Panzern und Raketenwerfern rollte auf Moskau zu. Gerüchte über Putins Flucht nach St. Petersburg machen die Runde. Ebenso das Dementi. Zuletzt hiess es, der Vormarsch sei gestoppt, auf russischem Boden solle kein russisches Blut vergossen werden.
Die Welt scheint stillzustehen und sich zu fragen: Beginnt da ein Bürgerkrieg? Ist er bereits abgewendet? Oder scheitert der Putschversuch schneller, als er begonnen hat? Gewaltige Mächte streiten um die Herrschaft. Doch es herrscht vor allem: Unsicherheit.
Am Freitag machte Jewgeni Prigoschin (62), Chef der 50 000 Mann starken Söldnertruppe Wagner, rechtsumkehrt. Ab da kämpften seine Leute nicht mehr gegen die Ukraine, sondern hatten ihrem eigenen Kriegsherrn Wladimir Putin (70) den Krieg erklärt – und nahmen Kurs auf den Kreml.
Prigoschin wütet gegen russische Elite
Der Eskalation gingen hasserfüllte Streitereien um die richtige Taktik im Krieg um die Ukraine voraus. Im Visier des Söldnerführers steht vor allem Verteidigungsminister Sergei Schoigu (68). Prigoschin wütet gegen die russische Elite, dabei waren es Moskaus innere Machtzirkel, die den Aufständischen erst gross gemacht hatten.
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Jahrelang war der skrupellose Geschäftsmann Putins Vertrauter. Seine Söldner, die Gefangene folterten und töteten, waren für heikle Auslandseinsätze in Afrika und Nahost, wobei die halbstaatliche Struktur half, Spuren in Richtung Kreml zu verwischen.
Prigoschin betreibt ein Restaurant im Regierungsviertel, in dem einst auch Putin eingekehrt sein soll. Deshalb ist der Wagner-Chef weltweit als «Putins Koch» bekannt. Ein Koch, der einst wegen Raub in Haft sass, später ein Firmenkonglomerat leitete und eine Trollfabrik betrieb, mit deren Falschinformationen er die US-Präsidentenwahl 2020 manipuliert haben soll.
Produkt von Putins aggressiver Expansionspolitik
Erst im September 2022 gab Prigoschin erstmals öffentlich zu, die Söldnertruppe gegründet zu haben – und zwar 2014 nach der Invasion im ukrainischen Donbass: Die Gruppe Wagner ist demnach ein Produkt von Putins aggressiver Expansionspolitik. Bei Eroberungen in den Provinzen Luhansk und Donezk sollen Prigoschins Männer eine Schlüsselrolle gespielt haben. Die internationale Gemeinschaft wirft der Gruppe vor, sie sei am Massaker im ukrainischen Butscha beteiligt gewesen. Die blutige Niederwerfung der ostukrainischen Stadt Bachmut gilt als Prigoschins grösster militärischer Erfolg.
Neben dem Söldnerführer figuriert als Co-Gründer Ex-Geheimdienstler Dmitri Utkin (53), der mit Nazi-Symbolen tätowierte offizielle Kommandeur. Er soll den deutschen Komponisten Richard Wagner (1813–1883) bewundern – daher der Name der Organisation.
Mit der Distinguiertheit einer Wagner-Sinfonie hat die Miliz allerdings wenig gemein: Sie rekrutiert ihre Mitglieder unter Freiwilligen, gezielt auch Häftlinge. 32 000 Gefangene sollen so schon in Freiheit gekommen sein – etwa ein Drittel von ihnen nach Prigoschins Angaben allerdings allein in der Schlacht um Bachmut ihr Leben verloren haben.
Putin spricht von «Dolchstoss»
In der russischen Öffentlichkeit genossen die Wagner-Leute bis zuletzt Sympathien. Putin-Gegner und Ex-Oligarch Michail Chodorkowski (59) rief die Bevölkerung gestern dazu auf, die Rebellion zu unterstützen.
Putin äusserte sich derweil zur Meuterei seines einstigen Vertrauten und geisselte sie als «Dolchstoss» in den Rücken der Nation; sein Gefolgsmann, Ex-Präsident Dmitri Medwedew (57) warnt vor einem Staatsstreich.
Russlands Hauptstadt wappnet sich gegen die heranrückenden Truppen: Vor den Zufahrten nach Moskau werden Sandsäcke aufgetürmt, Granatwerfer aufgestellt und Gräben ausgehoben. An mindestens einem Abschnitt des Autobahnrings wurde ein Kontrollpunkt eingerichtet. «Die Sicherheitsmassnahmen werden an einer Reihe von Ausfahrten verstärkt», berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Ria Nowosti.
Von Reisen nach Russland wird abgeraten
Bürgermeister Sergei Sobjanin (65) forderte Moskaus Bewohner auf, zu Hause zu bleiben; den Montag erklärte er aus Sicherheitsgründen zum arbeitsfreien Tag. «In Moskau ist der Anti-Terror-Notstand ausgerufen. Die Lage ist schwierig», räumte Sobjanin ein. Es gehe um die «Minimierung der Risiken».
Auch im Westen zeigt man sich besorgt. US-Präsident Joe Biden (80) tauschte sich mit Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz (65), Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (45) und dem britischen Premierminister Rishi Sunak (43) über die Situation aus – sie bekräftigten in ihrem Gespräch die «unerschütterliche Unterstützung» für die Ukraine.
Das Aussendepartement in Bern teilte gestern via Twitter mit, dass man die jüngsten Ereignisse in der Russischen Föderation «aufmerksam verfolge» und «in ständigem Kontakt mit seiner Botschaft in Moskau» stehe, «um die Lage zu beurteilen». Von nicht dringenden Reisen nach und Aufenthalten in Russland wird derzeit abgeraten.
In Bundesbern ist bislang ohnehin wenig Beunruhigung zu spüren. Nationalrat Franz Grüter (59), Präsident der Aussenpolitischen Kommission, sieht keinen Anlass, die Entwicklung zu traktandieren. «Für die Schweiz hat das keine direkten Auswirkungen. Es besteht deshalb auch kein unmittelbarer Handlungsbedarf», so der SVP-Politiker.
Gestern Abend dann erfolgte die scheinbare Wende: Prigoschin stoppte seine Leute vor Moskau. Man wolle kein Blutvergiessen auf russischem Boden. Putins Sessel ist damit fürs Erste gesichert – und sein Gegenspieler Prigoschin als Machtfaktor im riesigen Land endgültig etabliert.