Ist das der Anfang von Putins Ende? Die Ereignisse in Russland überschlagen sich. Langzeitherrscher Wladimir Putin (70) hat seit seinem Aufstieg an die Macht – im Jahr 2000 wurde er erstmals Präsident – zahllose Kritiker in Kerker werfen lassen. Putin machte Russland de facto zum Einparteienstaat und säuberte den Kreml-Machtzirkel immer wieder aus. Jetzt bietet sich Putin erstmals bewaffneter Widerstand – von «eigenen» Kämpfern an der Ukraine-Front.
Zum ersten Mal erhebt sich eine bewaffnete Revolte gegen Putins Macht. Wagner-Söldnerführer Jewgeni Prigoschin (62) warf Moskaus Militärführung am Freitag einen Angriff auf seine Privatarmee-Einheiten vor und droht mit Gegenmassnahmen. Russlands Verteidigungsminister Sergei Schoigu (68) habe Wagner-Lager im Hinterland mit Artillerie, Helikoptern und Raketen beschiessen lassen. Das sagte Prigoschin in einer am Freitag von seinem Pressedienst auf Telegram verbreiteten Sprachnachricht. Russen sollen sich seinen Kämpfern anschliessen. Seither laufen im Kreml die Drähte heiss.
Haftbefehl gegen Prigoschin erlassen
Gegen Prigoschin wurde von den russischen Behörden ein Haftbefehl wegen Meuterei erlassen. Der Vorwurf: Er mobilisiere seine bewaffneten Truppen, um die militärische Führung des Landes zu stürzen. Der oberste Militärführer des Landes ist der Präsident der Russischen Föderation: Wladimir Putin.
Das Weisse Haus beobachte die Lage in Russland, Präsident Joe Biden sei informiert worden, so ein Sprecher am Freitag in Washington. «Wir beobachten die Situation und werden uns mit Verbündeten und Partnern über diese Entwicklungen beraten», sagte Adam Hodge, Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats. Auch Präsident Biden sei gebrieft worden.
Das Weisse Haus beobachte die Lage in Russland, Präsident Joe Biden sei informiert worden, so ein Sprecher am Freitag in Washington. «Wir beobachten die Situation und werden uns mit Verbündeten und Partnern über diese Entwicklungen beraten», sagte Adam Hodge, Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats. Auch Präsident Biden sei gebrieft worden.
Unbestätigten Berichten zufolge soll eine Wagner-Fahrzeugkolonne auf Moskau zurollen. An Einfallstrassen in die russische Hauptstadt wurden Checkpoints errichtet. In der Nacht fuhren in Moskau Panzerwagen auf. Vor der Duma steht ein Schützenpanzer. «Die Sicherheitsmassnahmen in Moskau wurden verstärkt, alle wichtigen Einrichtungen, staatlichen Behörden und Verkehrsinfrastruktureinrichtungen wurden unter verstärkten Schutz gestellt», meldete die staatliche Nachrichtenagentur Tass. Am Samstag wurde dann der Anti-Terror-Notstand ausgerufen. «Um mögliche Terroranschläge in der Stadt und dem Gebiet Moskau zu verhindern, ist ein Regime für Operationen zur Terrorbekämpfung eingeführt worden», teilte das nationale Anti-Terror-Komitee am Samstag mit.
Kiew «beobachtet»
Die russischen Staatsmedien schweigen noch grösstenteils zu den Vorgängen. «Präsident Putin wurde über alle Ereignisse im Zusammenhang mit Prigoschin unterrichtet», erklärte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow (55) laut Tass knapp. «Es werden die notwendigen Massnahmen ergriffen», so Peskow. Die informellen Kanäle im Land dagegen, über die sich Russen informieren, laufen heiss.
Auch auf dem Hauptsender Rossija 1 läuft das übliche Programm, während in sozialen Medien Nachrichten kursieren, dass sich Wagner-Kämpfer in den letzten 24 Stunden von ihren Verwandten verabschiedet und ihnen gesagt haben, sie sollen die Fernsehnachrichten verfolgen. Auf Twitter kommentierte das ukrainische Verteidigungsministerium mit den knappen Worten: «Wir beobachten.»
Kiew habe die «Provokation Prigoschins» bereits ausgenutzt, meldete Moskaus Verteidigungsministerium am späten Abend. «Das Kiewer Regime nutzt die Provokation Prigoschins, um die Situation zu desorganisieren.» Bei Bachmut stocke Kiew die «Anfangslinien für Offensivaktionen» mit zwei neuen Brigaden auf. Bachmut, das war eine russische Eroberung durch Prigoschins Söldner.
Nervöse russische Generäle
Divide et impera. Unfrieden in Russland schadet Kiew nicht. Selbst höchste russische Militärkreise scheinen nervös. Sergei Surowikin (55), bis letzten Januar Oberbefehlshaber von Moskaus Truppen in der Ukraine, richtete auf Telegram einen eindringlichen Appell an Wagner: Die Söldner «sollen den Befehlen des russischen Präsidenten Folge leisten, ihre Kolonnen stoppen und an ihre ständigen Einsatzorte zurückgehen».
Surowikin, der Vizechef des russischen Generalstabs, schlägt sich im Konflikt zwischen der Privatarmee Wagner und dem Verteidigungsministerium klar auf die Seite des Machtapparats in Moskau: «Der Feind wartet nur darauf, dass sich unsere innenpolitische Situation verschlimmert – das können Sie dem Feind in dieser für das Land schwierigen Zeit nicht bieten», appelliert der General an Prigoschins Männer.
Währenddessen forderte Prigoschin auch die Nationalgarde zum Seitenwechsel auf, und ein Wagner-loyaler Telegramkanal meldete, dass die Söldnerkommandanten dem «vielversprechendsten Politiker» treu bleiben: «Weder Moskau noch Surowikin werden in der Lage sein, das zu stoppen, was begonnen hat.»
«Aufruf zu Bürgerkrieg»
Schlag auf Schlag überstürzten sich die Ereignisse am Freitag in Russland, bis der mächtige russische Inlandsgeheimdienst FSB am späten Abend meldete, gegen Prigoschin werden wegen versuchten Militärputsches ermittelt. Hochverrat! Prigoschin habe zum Kampf gegen Moskaus Militärführung aufgerufen, teilte das Nationale Anti-Terror-Komitee am Freitagabend mit.
Der FSB wirft Prigoschin einen «Aufruf zu Bürgerkrieg» vor. Prigoschins Worte seien ein «Dolchstoss in den Rücken russischer Soldaten», zitiert die «Komsomolskaja Prawda» den FSB. Dieser forderte Wagner-Kämpfer auf, Prigoschins «kriminelle und verräterische Befehle nicht auszuführen und Massnahmen zu ergreifen, um ihn festzunehmen». Gemäss der Moskauer Generalstaatsanwaltschaft drohen Prigoschin 12 bis 20 Jahre Haft.
Prigoschin verspricht Rache
Prigoschin seinerseits erklärte, er habe 25'000 Männer unter Befehl, die nun in eine Offensive gehen würden: «Wer versucht, uns Widerstand zu leisten, den werden wir als Bedrohung betrachten und sofort töten.»
Prigoschins Angaben nach ist Schoigu eigens an die nahe der ukrainischen Grenze gelegene Millionenstadt Rostow am Don gekommen, um die Operation gegen Wagner zu leiten. «Um 21 Uhr ist er geflohen – feige wie ein Weib – um nicht zu erklären, warum er Helikopter hat abheben und Raketenschläge durchführen lassen, um unsere Jungs zu töten», so Prigoschin. «Dieses Biest wird aufgehalten.»
Wagner-Kämpfer nehmen erste Grossstadt ein
In Rostow am Don, das rund 1000 Kilometer südöstlich von Moskau liegt, fuhren am späten Freitag Panzerfahrzeuge auf. Medien berichteten von Strassensperren. Im Falle einer Bedrohung herrsche Schiessbefehl, so die BBC. Truppenbewegungen wurden auch in der Millionenstadt Krasnodar östlich der Krim gemeldet. Die Gouverneure von Rostow am Don und auch dem nördlicheren Lipezk erliessen Reisebeschränkungen und riefen die Bevölkerung dazu auf, zu Hause zu bleiben.
Laut Prigoschin hätten seine Kämpfer in der Nacht auf Samstag bei Rostow am Don einen russischen Militärhelikopter abgeschossen. Am frühen Samstag meldeten Wagner-Kanäle die Einnahme von Rostow: Das Militärhauptquartier der Russen sowie das Innenministerium sind unter Kontrolle der Söldnerarmee. «Unter unserer Kontrolle befinden sich Militärobjekte Rostows, darunter auch der Flugplatz», sagte Prigoschin in einem am Samstagmorgen veröffentlichten Video. Zuvor war er höchstpersönlich in der eroberten Stadt eingetroffen.
Prigoschin sagte in dem Video ausserdem, vom Flugplatz in Rostow starteten weiter planmässig Kampfflugzeuge für den Krieg gegen die Ukraine. «Die Flugzeuge (...) heben planmässig ab.» Unabhängig überprüfen lässt sich das nicht.
Einnahme von Rostow sei noch nicht das Ende
Prigoschin hatte am Freitagabend von einer «grossen Anzahl» an Toten bei der scheinbar von Schoigu geleiteten Aktion gesprochen. Der Wagner-Führer nannte aber keine genaue Zahl der angeblich beim Schlag getöteten Söldner.
In der Nacht auf Samstag bestritt Prigoschin den Vorwurf eines bewaffneten Aufruhrs. «Das ist kein bewaffneter Aufstand, sondern ein Marsch für Gerechtigkeit», erklärte er in einer Sprachnachricht auf Telegram.
«Wir alle sind bereit, zu sterben»
Der Einmarsch seiner Truppen in die 1,15-Millionen-Stadt Rostow am Don sei noch nicht das Ende, betonte Prigoschin. Auf Telegram gab er sich am Samstag wild entschlossen, seine Mission zu Ende zu führen. Alle seine Kämpfer seien zum Tod bereit.
«Wir sind alle bereit, zu sterben, alle 25'000», so Prigoschin in einer Audiobotschaft. «Denn wir sterben für das Vaterland, wir sterben für das russische Volk, das man von denen befreien muss, die die Zivilbevölkerung bombardieren.» Es ist unklar, ob Prigoschin damit ukrainische oder auch russische Zivilopfer meint.