Menschen landen im Gefängnis, weil sie Putins «Spezialoperation» einen «Krieg» nennen, weil sie Blumen für die Ukraine niederlegen oder auch nur zaghaft Kritisches im Netz posten. Nur einer hat Narrenfreiheit: Jewgeni Prigoschin (62).
Seit Monaten poltert der Wagner-Chef auf allen Kanälen gegen die russische Militärführung. Jüngstes Beispiel: Über seinen Presse-Service liess der Wagner-Chef ein Video veröffentlichen. Darin spricht der russische Oberleutnant Roman Wenewitin (45) wie eine Geisel mit eingeschlagener Nase in eine Kamera.
Der Kommandant der 72. Brigade gesteht – vielleicht nicht ganz freiwillig —, den Schiessbefehl gegen eine Gruppe von Wagner-Söldnern gegeben zu haben. Beim Angriff wurde ein Militärfahrzeug der Wagner-Gruppe zerstört. Es gab keine Verletzten, jedoch wurden russische Soldaten gefangen genommen, darunter der Oberleutnant. Wenewitin sei betrunken gewesen, heisst es weiter im Geständnis, und er habe aus Hass gegen die Wagner-Gruppe gehandelt.
Prigoschin nennt Verteidigungsminister Abschaum
Jewgeni Prigoschin wettert auf Telegram: Die Russen hätten die Wege vermint, über die sich die Wagner-Truppen aus Bachmut zurückziehen wollten. Die jüngsten Vorwürfe im Streit zwischen der Wagner-Gruppe und der Machtelite rund um Wladimir Putin (70) haben es in sich.
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Nie scheut Prigoschin Namen zu nennen. Nur einer kommt in seinen Hasstiraden stets ungeschoren davon: Der Kreml-Chef selbst. So bezeichnet Prigoschin den russischen Verteidigungsminister Sergei Schoigu (67) und den Kommandanten Waleri Gerassimow (67) als «Abschaum», weil sie seinen Söldner zu wenig Munition lieferten. Den Putin-Vertrauten und Gouverneur von St. Petersburg, Alexander Beglow (67), nennt er einen «Parasiten» und er lässt seine Wagner-Söldner im Video den Duma-Abgeordneten Viktor Sobolew (73) wüst beschimpfen. Prigoschin kritisiert scharf die russische Offensive, lobt die Stärke der Ukrainer. Laut Pentagon-Leaks soll Prigoschin sogar der Ukraine angeboten haben, russische Stellungen zu verraten.
Und dennoch: Der Kreml schweigt. Internationale Beobachter rätseln, warum «Putins Koch» noch nicht, wie viele andere, prominente Kritiker überfahren, vergiftet oder aus dem Fenster eines Hochhauses geworfen wurde.
Sogar ein Militärputsch wäre nicht undenkbar
2024 sind Präsidentschaftswahlen in Russland. Wladimir Putin könnte den Platz räumen für jemanden, der seinen angefangenen Konflikt dann beenden müsste, schreibt die «New York Post». Putin vertraut Prigoschin. Dieser würde Putin nicht in einen Gulag verbannen. Er hat keine offensichtliche Schuld am möglichen Scheitern des Ukraine-Krieges, weil seine Wagner-Gruppe ja tapfer gekämpft hat und von der Militärführung sabotiert wurde. Prigoschin inszeniert sich seit dem Ukraine-Krieg als nationalistisch, volksnah und kämpferisch gegen Korruption und Establishment. Das könnte auch das Wahlvolk überzeugen.
Auch ein Putsch durch die Wagner-Gruppe wäre denkbar, befürchtet der Ex-Geheimdienstoffizier und Militärblogger Igor Girkin (52). Dass Prigoschin den ehemaligen Vizeverteidigungsminister Michail Misinzew (60) und den russischen Ex-Befehlshaber in der Ukraine, Sergej Surowikin, den «General Armageddon», für die Wagner-Gruppe gewinnen konnte, spreche für ein geplantes Takeover im Kreml, meint Osteuropa-Experte Vlad Mykhnenko von der Oxford-Universität gegenüber «Newsweek».
«Obwohl die Wagner-Truppe natürlich das russische Gewaltmonopol unterminiert, hat sie Putin bis anhin aufgrund ihrer militärischen Schlagkraft gewähren lassen», sagt der Schweizer Militär-Experte Markus Berni im Blick-Gespräch. Der ehemalige US-General Mark Kimmitt erklärt Putins Schweigen zu Prigoschin bei CNN mit einem alten russischen Sprichwort: «Halt dir deine Freunde nah, deine Feinde aber noch näher.»