38 Stunden voller Ungewissheit mussten Russland und die Kreml-Führung Ende Mai durchleben. 38 Stunden, in denen Wagner-Boss Jewgeni Prigoschin (†62) scheinbar ohne Widerstand Richtung Moskau marschierte und die Frage aufbrachte, ob in Russland nun ein Bürgerkrieg droht.
Die Ereignisse überschlugen sich. Schnell kam es aber zu erfolgreichen Verhandlungen mit dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko (68). Prigoschin stoppte den Vormarsch und reiste Richtung Belarus ab. Blick liefert die Chronologie der Ereignisse im grossen Protokoll des Wagner-Aufstands.
Juni 2023, 8 Uhr
Am 23. Juni veröffentlicht Prigoschin auf seinen Telegram-Kanälen ein Video-Interview. Darin schiesst er einmal mehr gegen die russische Regierung – allerdings in einer neuen Dimension. Die Militärführung des Kremls täusche Wladimir Putin (70) sorgfältig. Das Ministerium und vor allem auch Verteidigungsminister Sergei Schoigu (68) sollen den Präsidenten bewusst mit Fehlinformationen versorgt haben, damit er eine Eskalation mit der Ukraine befürchtet und zum ersten Schlag ausholt.
Die Ukraine habe «den Donbass nicht bombardiert, sondern nur russische Stellungen», fährt Prigoschin fort. «Das Verteidigungsministerium erzählt, dass die Ukraine Russland gemeinsam mit der Nato angreifen wollte.» Was nicht stimme. Der Grund für die «Spezialoperation Z» basiere also auf Lügen – eine Aussage, die in Russland für Aufsehen sorgt.
Gerhard Mangott (56), Militärexperte an der Uni Innsbruck, erklärte damals gegenüber Blick: «Prigoschin entzieht der ‹speziellen Militäroperation› damit jede Legitimität und zerstört die zentralen Narrative der russischen Führung für diesen Krieg.» Und weiter: «Damit diskreditiert er Putin persönlich und verstärkt Zweifel in der Bevölkerung über die Sinnhaftigkeit des Kampfs», so der Experte.
Es war eine neue Dimension der verbalen Attacken Prigoschins. Noch ahnt allerdings niemand, was wenige Stunden später folgen sollte.
Juni 2023, 21 Uhr
Gegen 21 Uhr Schweizer Zeit veröffentlicht Prigoschin auf seinem Telegram-Kanal eine Audionachricht. Und die hat es in sich. Prigoschin wirft Schoigu vor, seine Truppen bombardiert zu haben. Es sei «eine sehr grosse Anzahl an Wagner-Soldaten» getötet worden, sagt Prigoschin. Er ruft zu einem «Marsch für die Gerechtigkeit» auf.
«Das Böse in der Militärführung muss gestoppt werden», sagt der Wagner-Chef. «Wir sind 25'000.» Ausserdem rief er «alle, die sich uns anschliessen wollen» dazu auf, «dem Chaos ein Ende zu bereiten».
Juni 2023, 22.30 Uhr
Das russische Verteidigungsministerium veröffentlicht eine Erklärung, in der Prigoschins Ausführungen dementiert werden. Die Anschuldigungen seien «eine klare Provokation», heisst es in der Mitteilung. Der russische Geheimdienst FSB eröffnet ein Strafverfahren gegen Prigoschin. Grund: «Aufruf zu einer bewaffneten Meuterei». Auch Wladimir Putin sei über die Vorgänge informiert worden.
Juni 2023, 1 Uhr
Prigoschin veröffentlicht eine weitere Audiobotschaft. Seine Söldner würden auf russisches Territorium vorrücken. Das Ziel sei die für Russland aus strategischer Sicht wichtige Stadt Rostow am Don. Wenig später sagte er, seine Truppen seien von den russischen Soldaten «mit Umarmungen empfangen» worden.
Fast gleichzeitig werden in Moskau die Sicherheitsmassnahmen drastisch erhöht. Videos im Netz zeigen Panzerwagen vor dem russischen Parlament. Staatliche russische Nachrichtenagenturen bestätigten, dass «wichtige Objekte unter verstärkte Bewachung genommen» würden.
Juni 2023, 5 Uhr
Praktisch ohne Widerstand übernehmen Wagner-Soldaten die Kontrolle über Rostow am Don. Die Gebäude des Innenministeriums und die Militärquartiere werden besetzt. Prigoschin übernimmt damit die Kontrolle über eine Stadt, in der über eine Million Menschen leben.
Die Übernahme geht ohne Scharmützel voran. Aufnahmen zeigen Wagner-Soldaten, die in Supermärkten anstehen oder auf Restaurantterrassen sitzen.
Juni 2023, 9 Uhr
Putin hält im Staatsfernsehen eine Rede. Er wirft Prigoschin «Verrat an unseren Waffenbrüdern» vor. Es sei «ein Stich in den Rücken des russischen Volks». Er kündigt harte Strafen gegen die Söldner und vor allem auch gegen Prigoschin an. Zudem teilte Putin mit, er werde alles tun, um sein Land zu verteidigen.
Kurz zuvor wird in Moskau der Anti-Terror-Notstand ausgerufen. Der Verkehr auf den Hauptachsen wird verstärkt kontrolliert. Alle grösseren Veranstaltungen werden abgesagt. Zudem sind vermehrt Soldaten auf den Strassen unterwegs.
Juni 2023, 11 Uhr
Erstmals äussert sich auch Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow (46) zum Konflikt. Er stellt sich hinter Putin und teilt mit, er werde seine Truppen in die «Spannungsgebiete» verlegen. «Der Aufstand muss niedergeschlagen werden, und wenn harte Massnahmen nötig sind, sind wir bereit dazu!» Kurz darauf machen Videos von langen Wagenkolonnen die Runde.
Währenddessen rücken die Wagner-Söldner weiter vor. Mittlerweile besetzen sie die Stadt Woronesch auf halbem Weg zwischen Rostow am Don und Moskau. Der Vormarsch geschieht ohne Widerstand der russischen Soldaten und in Windeseile. Nur vereinzelt gibt es Berichte über Gefechte.
Die Operation Prigoschins scheint perfekt geplant. «Es scheint sich um eine gut organisierte Operation zu handeln», schreibt etwa Philips O'Brien, ein amerikanischer Historiker und Professor für strategische Studien an der schottischen University of St. Andrews, in seinem Newsletter.
Auch das Timing sei perfekt, schreibt O'Brien weiter. «Fast alle Wagner-Truppen haben sich im vergangenen Monat aus der Ukraine zurückgezogen und sind wieder in Russland oder in Übersee.» Das bedeute, dass Prigoschin über eine Menge ausgeruhter Kräfte verfügt, von denen viele echte Kampferfahrung auf dem Schlachtfeld vorweisen können.
Mehr zum Aufstand der Wagner-Söldner
Auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (45) äussert sich erstmals. In einem Telegram-Post schreibt er: «Russland hat seine Schwäche und Dummheit lange mit Propaganda kaschiert. Und jetzt ist das Chaos so gross, dass keine Lüge es verbergen kann.»
Er ergänzt: «Die Schwäche Russlands ist offensichtlich. Eine Schwäche auf ganzer Linie.» Je länger Russland seine Truppen und Söldner in die Ukraine schickt, desto mehr Chaos, Schmerz und Probleme würde es sich selbst bereiten, sagt der Ukraine-Präsident.
Juni 2023, 14 Uhr
In Moskau macht sich Panik breit. Alle Direktflüge aus der russischen Hauptstadt in andere Landesteile sind ausverkauft. Zudem kursieren in den sozialen Medien Gerüchte, wonach sich Putin nach St. Petersburg abgesetzt habe. Ein Sprecher dementiert.
Bilder zeigen, wie mit Sand gefüllte Lastwagen auf den Verkehrsachsen Richtung Moskau postiert werden. Sie sollen verhindern, dass die Wagner-Truppen schnell vorrücken können. Besonders nützlich sind sie nicht. Kurze Zeit später macht ein Video die Runde, das eine gesprengte Strassensperre zeigen soll.
Die militärischen Checkpoints werden zudem massiv verstärkt. Auch Panzer werden in den Strassen postiert. Sandsäcke und Maschinengewehre stehen an den Strassenrändern, neuralgische Punkte wie der Rote Platz werden abgeriegelt.
Laut dem Onlinemagazin «Meduza» soll Putin ausserdem den Befehl erlassen haben, Prigoschin zu töten. Zudem unterzeichnete der russische Präsident ein neues Kriegsrecht-Gesetz. Damit sollen Verstösse wie Widerhandlungen gegen Ausgangssperren härter bestraft werden können.
Auch das ukrainische Verteidigungsministerium reagiert – mit Spott und Häme. «Das Verteidigungsministerium der Ukraine fragt sich, warum die russischen Soldaten noch in ihren schlammigen Schützengräben sind, anstatt ihren Kameraden auf beiden Seiten des Konflikts zu Hilfe zu eilen», heisst es am Samstag in einer Erklärung des Ministeriums auf Twitter. «Das wäre bei Weitem sicherer, als sich der ukrainischen Armee entgegenzustellen.»
Juni 2023, 17 Uhr
Erstmals machen Gerüchte von Verhandlungen die Runde. Dabei soll auch der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko eine Rolle spielen. Prigoschin lässt daraufhin verlauten, es habe keine Einigung gegeben.
Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin (65) gibt bekannt, dass die Bevölkerung der Hauptstadt am Montag nicht arbeiten müsse. Ausserdem zeigt er sich besorgt über die aktuelle Situation. «Die Lage ist schwierig», sagt Sobjanin.
Juni 2023, 19.30 Uhr
Knall in Russland! Die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass gibt bekannt, dass es zu einer Einigung mit Prigoschin gekommen sei. Man habe «eine profitable und akzeptable Lösung der Situation mit Sicherheitsgarantien für die Wagner-Kämpfer entwickelt». Was Prigoschin im Gegenzug für den gestoppten Vormarsch erhält, ist nicht bekannt.
Der Wagner-Boss veröffentlicht auf Telegram eine Audiobotschaft. Er gibt an, seinen Vormarsch 200 Kilometer vor Moskau gestoppt zu haben. Laut dem Söldnerboss will man kein «Blut vergiessen». Es sei deshalb an der Zeit, die Kolonnen umdrehen zu lassen. Von Verhandlungen sagt er nichts.
Juni 2023, 22 Uhr
Die Söldner der Wagner-Gruppe verlassen Rostow am Don. Auf Videos ist zu sehen, wie sie unter Applaus verabschiedet werden. Gleichzeitig teilt der Kreml mit, dass die Strafverfahren gegen die Söldner und gegen Prigoschin eingestellt werden.
Kurze Zeit später wird bekannt, dass der Wagner-Boss Exil in Belarus erhält. Aufnahmen in den sozialen Medien zeigen ihn bei der Abreise. Prigoschin winkt den Menschen auf der Strasse zu, als er wegfährt. Laut dem russischen Verteidigungsministerium würden zudem einige Teile der Wagner-Gruppen Verträge bei der Armee unterzeichnen.
Kreml-Sprecher Dmitri Peskow gibt bekannt, die Situation wirke sich nicht auf den Verlauf der «militärischen Spezialoperation» gegen die Ukraine aus. Peskow sagt auch, ihm sei nicht bekannt, dass sich die Haltung von Präsident Wladimir Putin gegenüber Verteidigungsminister Sergej Schoigu geändert habe.