VW-Krise trifft die Schweiz
Kurzarbeit, Entlassungen, Werkschliessungen

Das Drama der deutschen Autobranche bedroht auch Zulieferer in der Schweiz. Ihre Exporte brachen zuletzt um fast 15 Prozent ein, viele verhängten einen Einstellungsstopp, es kommt sogar zu Kündigungen und Produktionsverlagerungen ins Ausland.
Publiziert: 03.11.2024 um 16:19 Uhr
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Aktualisiert: 04.11.2024 um 11:02 Uhr
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Diese Firmen leiden unter der deutschen Automobilkrise: Feintool, Zulieferer von Präzisionsteilen für die Automobilbranche.
Foto: Keystone

Auf einen Blick

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Thomas SchlittlerWirtschaftsredaktor

Deutschland blutet. Die Autoindustrie, das Herz der stolzen Industrienation, steckt in der grössten Krise seit Jahren. Am Hauptsitz des Volkswagen-Konzerns in Wolfsburg (D) vergeht kaum ein Tag ohne Proteste. Anfang der Woche warnten Arbeitnehmervertreter: «Der Vorstand will in Deutschland mindestens drei VW-Werke dichtmachen.»

Die Tristesse im Nachbarland geht am hiesigen Werkplatz nicht spurlos vorbei: «Die Krise in Deutschland trifft auch die Schweiz, insbesondere die Autozulieferindustrie», sagt Martin Hirzel (54), Präsident des Industrie-Dachverbands Swissmem.

Martin Hirzel, Präsident des Industrie-Dachverbands Swissmem.
Foto: Keystone

Die Exporte der Zulieferbranche, die rund 32'000 Mitarbeitende zählt, sind in den ersten neun Monaten des Jahres um 7,8 Prozent zurückgegangen. Im dritten Quartal lag der Rückgang gegenüber Vorjahr gar bei 14,8 Prozent. «Das ist massiv», weiss der ehemalige CEO des Automobilzulieferers Autoneum. «Viele Firmen haben deshalb einen Einstellungsstopp verhängt, punktuell gibt es auch Entlassungen und Kurzarbeit.»

Verlagerungen, Schliessungen, mögliche Verkäufe

In ihrem Halbjahresbericht spricht die Berner Feintool-Gruppe, Zulieferer von Präzisionsteilen für die Automobilbranche, von «Überkapazitäten» im Geschäft für Elektromotoren in Europa. Das Unternehmen mit weltweit 3200 Mitarbeitenden hat bereits im Mai harte Sparmassnahmen angekündigt: Die Grossserienproduktion von Feinschneid-Teilen wird bis Ende 2025 von der Schweiz nach Tschechien verlagert. In Lyss BE gehen 70 von 200 Stellen verloren.

Ebenso düster klingt es bei Komax, einem Spezialisten für die Herstellung von Maschinen, die Prozesse der Kabelverarbeitung automatisieren. Die Gruppe erzielt rund 75 Prozent des Umsatzes mit Kunden aus der Automobilindustrie – und rechnet für 2024 mit einem Umsatzeinbruch von 20 Prozent.

Der Konzern mit 3400 Mitarbeitenden hat eine Reihe von Massnahmen ergriffen, um Kosten zu senken: Die Produktionsstandorte in Rotkreuz ZG und Cham ZG werden aufgelöst und am Hauptsitz in Dierikon LU zusammengelegt. Zudem verfügte Komax einen Einstellungsstopp, führte Kurzarbeit ein – und nahm Entlassungen vor.

Einschneidende Folgen hat die deutsche Krise auch für Georg Fischer. Der Industrieriese aus Schaffhausen schrieb diese Woche von «starkem Gegenwind» im Automobilsektor. Für die Division GF Casting Solutions, die drei Viertel ihres Umsatzes in dieser Branche erzielt, verkündete die Firmenleitung, «alle strategischen Optionen» zu prüfen.

Mit anderen Worten: Das Management liebäugelt damit, die Herstellerin von Leichtbaukomponenten abzustossen. Betroffen davon wären GF-Mitarbeitende in Schaffhausen und Stabio TI.

Nicht alle müssen darben

Ebenfalls eng verknüpft mit der Automobilindustrie ist das Schicksal der Swiss Steel Group. «Wir liefern massgeschneiderte Lösungen in gleichbleibend hoher Qualität für Motorkomponenten, Hochdruckpumpen, Abgassysteme, Fahrwerkskomponenten, Hydraulik- und Pneumatiksysteme, Getriebe, Lenkung und Airbags», wirbt der Stahlkonzern.

In den vergangenen Jahren jedoch liess die Nachfrage zu wünschen übrig. Im Halbjahresbericht Mitte August klagte das Unternehmen aus Emmenbrücke LU abermals: «Der Automobilsektor, unser grösstes Kundensegment, war von einem schwierigen Umfeld betroffen.»

Für die Zentralschweizer geht es um alles. Vor zwei Wochen berichteten «NZZ am Sonntag» und «SonntagsZeitung», das Unternehmen stehe kurz vor dem Kollaps – was der Konzern vehement bestreitet.

Bei anderen Grossfirmen wie Dätwyler, SFS und Ems-Chemie, allesamt stark verbunden mit der Automobilindustrie, sehen die Zahlen und Zukunftsperspektiven besser aus.

Dazu sagt Anja Schulze, Leiterin des Swiss Center for Automotive Research an der Universität Zürich: «Die Situation ist bei jedem Unternehmen sehr unterschiedlich.» Zudem seien viele Firmen nicht nur im Automobilsektor tätig, sondern auch in anderen Branchen. «Das gibt etwas Luft.»

Anja Schulze, Leiterin des Swiss Center for Automotive Research an der Universität Zürich.
Foto: Zvg

Deutsche Abhängigkeit, auch in China

Doch auch Autoneum – eines der wenigen Schweizer Unternehmen, das direkt an die Automobilhersteller liefert – scheint stabil. Im ersten Halbjahr konnte das Unternehmen mit 16'500 Mitarbeitenden Umsatz und Gewinn gar leicht steigern.

Im europäischen Heimmarkt gibt es aber auch bei Autoneum harte Einschnitte: Im Werk in Bocholt in Nordrhein-Westfalen, das 2023 vom deutschen Automobilzulieferer Borgers übernommen wurde, verschwindet bis 2027 fast die Hälfte der 395 Stellen in der Produktion.

Der Konzern aus Winterthur ZH, der auch in Sevelen SG produziert, setzt lieber auf Wachstum in Asien. Die ersten «Initiativen» mit neuen Werken in Changchun (China) und Pune (Indien) seien bereits umgesetzt worden, heisst es im Halbjahresbericht. Geprüft wird zudem eine Übernahme lokaler Automobilzulieferer, um einen direkten Zugang zu chinesischen Automobilproduzenten zu erhalten.

Dieses Beispiel illustriert ein Problem, das viele Schweizer Zulieferer in Asien haben: Sie sind von ihren deutschen Kunden abhängig. «Einige Schweizer Zulieferer produzieren zwar direkt in China, allerdings meist für VW und andere westliche Hersteller», erklärt Swissmem-Präsident Hirzel. Mit den boomenden chinesischen Autobauern wie BYD ins Geschäft zu kommen, sei dagegen nicht ganz einfach.

Diese Beobachtung macht auch Schulze von der Universität Zürich: «Die Schweizer Automobilzulieferer haben ihre Abhängigkeit von Deutschland in den vergangenen Jahren verringert, aber nicht signifikant.» Immerhin zeige ihre jüngste Studie aber, dass der Kundenstamm deutlich vergrössert worden sei.

Keine Angst vor Kahlschlag

Ein anderer Aspekt gibt der Ökonomin ebenfalls Mut zur Hoffnung: «Die Schweizer Industrie war wegen des starken Frankens ununterbrochen gezwungen, an ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu arbeiten – ohne dass es zu einer Deindustrialisierung gekommen ist.» Das stimme sie auch für die jetzige Krise «vorsichtig optimistisch».

Hirzel will ebenfalls keine Panik verbreiten. «Im Gegensatz zu Deutschland sehe ich in der Schweiz kein strukturelles Problem», betont er. Die Schweizer Tech-Industrie sei weniger energieintensiv, höchst innovativ und zudem breiter diversifiziert, sowohl was die Branchen als auch die Absatzmärkte betreffe.

Dennoch dürfe sich die Schweiz nichts vormachen: «Ohne unsere Nachbarn geht nach wie vor wenig.» 55 Prozent der Exporte gingen in die EU, 23 Prozent alleine nach Deutschland.

Angesichts dieser Zahlen ist klar: Es ist im ureigenen Interesse der Schweiz, dass es für den grossen Nachbarn bald wieder aufwärtsgeht.

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