Eines vorneweg: «Dutti», wie der Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler (1888–1962) im Volksmund liebevoll genannt wird, war kein Kostverächter. Er trank gerne mal ein Glas Wein oder ein Schnäpschen, liess sich häufig mit der Zigarre im Mund ablichten, war deftigem Essen nicht abgeneigt. Diese Stärkung konnte Duttweiler gut gebrauchen, denn das bürgerliche Establishment hatte sich gegen ihn verschworen, verbot ihm die Gründung eigener Filialen.
Als Unternehmer war Duttweiler bis zur Gründung der Migros leidlich erfolgreich, scheiterte ein paar Mal mit seinen Ideen. Doch Dutti war vor allem ein Marketinggenie, lange bevor sich das moderne Marketing nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA entwickelte und in Europa Einzug hielt. «Dutti hat immer seine kommerziellen Zielsetzungen mit einem ideellen Überbau geschmückt», erklärt der Migros-Kenner und Publizist Karl Lüond (77) im Gespräch mit Blick.
Dutti macht Schulden
Mit dem ideellen Überbau ist in diesem Fall der Verzicht auf den Verkauf von Alkohol zum Wohle der Volksgesundheit gemeint. Dabei hatte dieser Entscheid auch handfeste unternehmerische Gründe. Erstens wurde Duttweiler von den Bierbrauern nicht mit dem vor allem bei Arbeitern beliebten Gerstensaft beliefert, und zweitens hatte er seit 1928 eine beinahe bankrotte Mosterei in Meilen ZH am Zürichsee an der Backe. Diese konnte er zwar billig erwerben – für die Aktien mit einem Nennwert von 400'000 Franken musste er nur 50'000 Franken bezahlen – trotzdem musste er sich dafür stark verschulden.
Also galt es, den Verkauf von Süssmost anzukurbeln, ein damals nicht gerade populäres Getränk. Dafür holte er seine letzten Verbündeten ins Boot: die Frauen. Diese warteten am Zahltag vor den Toren der Fabriken, um den Männern die Lohntüten wegzunehmen, damit diese das Familieneinkommen nicht gleich in der Beiz um die Ecke wieder versoffen.
Alkohol in der Migros? Was bis vor kurzem undenkbar schien, könnte bald Realität werden. Blick geht diese Woche in einer Serie der Frage nach, wie und weshalb die Schweiz trinkt – und wieso die Migros-Abstimmung Anfang Juni mehr als der Entscheid eines Supermarkts ist. Alle Teile auch auf Blick.ch und in der App.
Lesen Sie morgen: Was die Verfügbarkeit von Alkohol für einen Ex-Alki bedeutet und was beim Trinken in Hirn und Körper passiert.
Alkohol in der Migros? Was bis vor kurzem undenkbar schien, könnte bald Realität werden. Blick geht diese Woche in einer Serie der Frage nach, wie und weshalb die Schweiz trinkt – und wieso die Migros-Abstimmung Anfang Juni mehr als der Entscheid eines Supermarkts ist. Alle Teile auch auf Blick.ch und in der App.
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Der erste Industriebetrieb
Alkoholismus war damals ein grosses Problem: «Wo Most zu Schnaps gebrannt wird, bedeutet er – übermässig genossen – Zerstörung der Gesundheit, Abnahme an Ehre und Lebensfreude», propagierte Duttweiler. Mit Erfolg: Süssmost und Traubensaft wurden beliebte Durstlöscher, auch weil die Frauen diesen zu billigen Preisen in den Migros-Wagen einkauften.
Mit der Mosterei in Meilen war nicht nur der Grundstein für das Alkoholverbot in der Migros gelegt, sondern auch für die Migros-Industrie. Diese Betriebe unter dem Dach der Migros gehören heute nach eigener Einschätzung zu den «grössten Eigenmarkenproduzenten» weltweit. Und sind inzwischen viel wichtiger für den Geschäftserfolg der Migros als der einst geniale Marketingtrick mit dem Alkoholverbot.
Wobei: Ganz alkoholfrei geht es selbst in den orangen Migros-Supermärkten nicht zu und her. Bereits zu Duttweilers Lebzeiten führte die Migros alkoholhaltige Lebensmittel wie Kirschtorten oder Pralinen im Sortiment. Doch Wein, Bier oder Schnaps sucht der Konsument bis heute vergeblich in den Regalen. Selbst als mit Anton Scherrer (79) von 2001 bis 2004 ein ehemaliger Bierbrauer und Hürlimann-Boss an der Spitze der Migros stand, fiel das Alkoholverbot nicht.
Profi oder Werte?
Pikant: Scherrer befürwortet eine Aufhebung, sein Nachfolger Herbert Bolliger (69) dagegen, Migros-Chef bis 2017, setzt sich mit Vehemenz für eine Beibehaltung des Alkoholverbots ein. Doch die Zeiten Bolligers und Duttis bei der Migros sind vorbei. Es zählen nicht mehr die Werte, wie Bolliger sagt, es geht nur noch um den Profit.
Denn: An die 2,6 Milliarden Franken werden in der Schweiz jährlich mit alkoholhaltigen Getränken umgesetzt. Von diesem Kuchen wollen sich nun die Migros-Regionalfürsten und auch der Genossenschaftsbund ein möglichst grosses Stück abschneiden. Ob sie die Migros-Genossenschafter wohl lassen?