Diese Abstimmung bewegt die Schweiz: 2,3 Millionen Migros-Genossenschafter können seit Montag in den Filialen ihre Stimmzettel einwerfen – und Ja oder Nein sagen zum Verkauf von Alkohol in der Migros. Noch bis vor kurzem ein absolutes Tabu: Migros und Alkohol war wie Teufel und Weihwasser.
Blick nimmt die Abstimmung zum Anlass, um zu fragen: Wie trinkt die Schweiz heute? Wieso will die Migros ausgerechnet jetzt den Alkoholverkauf einführen? Und was könnte das für Folgen für die Gesellschaft haben?
Nur noch halb so viele tägliche Trinker
Zuerst einmal ganz nüchtern die Zahlen: Die Schweiz schaut im Schnitt immer weniger tief ins Glas. Zwischen 1992 und 2017 ist der Anteil der täglich Alkohol trinkenden Bevölkerung von 20,4 Prozent auf 10,9 Prozent gesunken. Am stärksten ist der Rückgang bei den 35- bis 64-Jährigen. Bei den Jugendlichen dasselbe Bild: Die Zahl der 11- bis 15-Jährigen, die ab und zu Alkohol trinken, hat sich seit 1994 halbiert. Und minderjährige Rauschtrinker gibt es auch immer weniger.
Selbst Sucht-Experten sprechen von einer insgesamt positiven Entwicklung. Alles gut also? Es ist etwas komplizierter.
Klar ist: früher war Alkoholismus ein gesellschaftliches Dauerthema. Mitte 19. Jahrhundert erschütterten «Branntweinepidemien» und «Schnapswellen» das Land. Um sie zu bekämpfen, gründete der junge Schweizer Bundesstaat 1887 die Eidgenössische Alkoholverwaltung (EAV). Abstinenzorganisationen wie das Blaue Kreuz hatten zu ihren Blütezeiten mehr Mitglieder als die Gewerkschaften. In den 1930er-Jahren schätzte die EAV, dass es in der Schweiz rund 140'000 private und kommerzielle Schnapsbrenner gab. Die EAV versuchte, die Bevölkerung mit Kampagnen dazu zu bringen, Obst lieber zu essen als zu brennen. Auch das Alkoholverbot der Migros entsprang diesem Zeitgeist. Es gilt seit 1928. Das Argument der Migros: die «Volksgesundheit».
Früher war trinken ein Problem der Gesellschaft
Doch die Ausrichtung der Schweizer Alkoholpolitik und der gesellschaftliche Blick aufs Trinken haben sich seither grundsätzlich gewandelt. Juri Auderset (39), Assistenzdozent am Historischen Institut der Universität Bern und Spezialist für die Geschichte der Rausch- und Genussmittel, sagt dazu: «Seit den 1970er-Jahren liegt gesundheitliche Vorsorge immer mehr in der Verantwortlichkeit des einzelnen Bürgers.» Alkoholismus wird als individuelles Problem angeschaut und nicht mehr als gesellschaftliches Problem.
Alkohol in der Migros? Was bis vor kurzem undenkbar schien, könnte bald Realität werden. Blick geht diese Woche in einer Serie der Frage nach, wie und weshalb die Schweiz trinkt – und wieso die Migros-Abstimmung Anfang Juni mehr als der Entscheid eines Supermarkts ist. Alle Teile auch auf Blick.ch und in der App.
Lesen Sie morgen: Was die Verfügbarkeit von Alkohol für einen Ex-Alki bedeutet und was beim Trinken in Hirn und Körper passiert.
Alkohol in der Migros? Was bis vor kurzem undenkbar schien, könnte bald Realität werden. Blick geht diese Woche in einer Serie der Frage nach, wie und weshalb die Schweiz trinkt – und wieso die Migros-Abstimmung Anfang Juni mehr als der Entscheid eines Supermarkts ist. Alle Teile auch auf Blick.ch und in der App.
Lesen Sie morgen: Was die Verfügbarkeit von Alkohol für einen Ex-Alki bedeutet und was beim Trinken in Hirn und Körper passiert.
«Wenn der Alkohol als Konsumgut wie jedes andere angesehen wird, ist die Idee einer Zulassung des Alkoholverkaufs in der Migros gewissermassen konsequent. Aber nur aus dieser Perspektive: denn durch Alkoholkonsum verursachte Probleme sind nach wie vor da», so Historiker Auderset.
Und wie. Denn auch wenn die Tendenz beim Trinken nach unten zeigt, die durch Alkohol verursachten Probleme sind immer noch massiv:
- 250'000 bis 300'000 Menschen sind alkoholabhängig in der Schweiz.
- Alkoholmissbrauch verursacht jährlich Kosten von rund 2,8 Milliarden Franken.
- 2017 verursachte Alkohol in der Schweiz 1553 Todesfälle.
Heute ist jeder Betroffene damit allein
Suchtexperten warnen deshalb davor, die Abstimmung auf die leichte Schulter zu nehmen. Soziologe Harald Klingemann (74) war langjähriger Forschungsleiter bei der Schweizerischen Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme. Er sagt: «Alkoholbezogene Probleme nehmen mit erhöhter Zugänglichkeit zu.» Der Verkauf von Alkohol durch die Migros schwäche deshalb die öffentliche Gesundheit.
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Und auch beim Bundesamt für Gesundheit äussert man sich ähnlich. BAG-Sprecher Daniel Dauwalder sagt, Gefährdete sollten, «möglichst wenigen Reizen ausgesetzt» sein. «Dazu gehören die Auslage in einem Laden wie auch die Werbung für alkoholische Getränke, die heute in der Schweiz omnipräsent ist.»