«Neutralität bedeutet nicht, keine Meinung zu haben»
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Sebastian Kurz im Interview:«Neutralität bedeutet nicht, keine Meinung zu haben»

Österreichs Ex-Kanzler Sebastian Kurz (35) über den Ukraine-Krieg, Neutralität und sein neues Leben
«Es ist wichtig, dass es Brückenbauer wie Österreich und die Schweiz gibt»

Am Freitag war Sebastian Kurz Gast am Swiss Economic Forum in Interlaken BE. Blick traf ihn zum grossen Gespräch. Kurz wirkt frisch und energiegeladen wie immer.
Publiziert: 04.06.2022 um 00:04 Uhr
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Aktualisiert: 04.06.2022 um 09:13 Uhr
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Am Freitag war Sebastian Kurz Gast am Swiss Economic Forum in Interlaken.
Foto: keystone-sda.ch
Christian Dorer (Interview) und Charly Hug (Fotos)

Sebastian Kurz (35) war der Shootingstar der europäischen Politik, der jüngste Bundeskanzler in der Geschichte Österreichs – und seit Herbst, nachdem die Justiz Untersuchungen wegen Korruption aufgenommen hatte, der jüngste Ex-Bundeskanzler. Seither ist es ruhig geworden um ihn. Gestern war er Gast am Swiss Economic Forum in Interlaken BE. Blick traf ihn zum Gespräch. Kurz wirkt frisch und energiegeladen wie immer.

Blick: Herr Kurz, wie ist Ihr neues Leben seit Ihrem Rücktritt als Kanzler?
Sebastian Kurz: Ich bin eigentlich noch mehr unterwegs als früher, in den USA, im Nahen Osten und quer durch Europa. Ich geniesse meine privatwirtschaftliche Tätigkeit, und privat sind wir sehr dankbar für unseren kleinen Sohn Konstantin.

Wie schwer ist Ihnen der Abschied aus der Politik gefallen?
Mir ist es nicht schwergefallen. In den Tagen nach meinem Ausstieg aus der Politik habe ich mich schon gefragt, was das Leben jetzt wohl bringen wird. Ich bin zum Glück ein begeisterungsfähiger Mensch, mir macht schnell etwas Freude. Und so konnte ich vielleicht für viele überraschend schnell in meine neue Tätigkeit eintauchen. Ein politischer Mensch werde ich trotzdem immer bleiben.

Sie arbeiten unter anderem für den Investor Peter Thiel. Was machen Sie?
Meine Tätigkeit ist sehr breit, vor allem beschäftige ich mich im Moment mit Investitionen in den Bereichen Tech und erneuerbare Energien, alles ausserhalb Österreichs, was dazu führt, dass ich fast immer unterwegs bin. Meine Freundin und unser Sohn sind so oft als möglich dabei, damit trotz der Reisen ein Familienleben möglich ist.

Die Justiz in Österreich ermittelt gegen Sie. Fürchten Sie eine Anklage?
Ich halte die Vorwürfe für falsch und habe gelernt, damit umzugehen. Deshalb sehe ich das Verfahren sehr entspannt. Wenn man lange politisch tätig ist, gehört es mittlerweile dazu, dass man angezeigt wird.

Was würden Sie im Nachhinein anders machen?
Tausend Dinge! In einer Spitzenfunktion trifft man jeden Tag Hunderte Entscheidungen unter Zeitdruck und, gerade in Krisenzeiten, manchmal mit wenig Informationen. Trotzdem stehe ich zu allen Entscheidungen, weil ich immer mein Bestes gegeben habe.

Österreich und die Schweiz sind neutrale Länder. Funktioniert Neutralität in Kriegszeiten?
Als Staatsbürger fühle ich mich wohl, in einem neutralen Österreich zu leben. Es passt zur Geschichte. Unser Land hatte dunkle Stunden und hat sich in den letzten Jahrzehnten vor allem auch wirtschaftlich sehr positiv entwickelt, gerade weil wir als neutraler Staat eine Brücke zwischen Ost und West bilden konnten. Ich bin überzeugt, dass es für Österreich der richtige Weg ist.

Und für die Schweiz?
Die Schweiz braucht keine Tipps von mir. In meiner Regierungszeit habe ich die Schweiz immer als Vorbild gesehen, und ich blicke nach wie vor mit tiefer Bewunderung auf die Schweiz, vor allem auf die wirtschaftliche Kraft – als attraktiver Wirtschaftsstandort und die marktwirtschaftliche Orientierung. Auch als neutrales Land nimmt die Schweiz eine klare Position ein und hat ihre Rolle gefunden, dies bei gleichzeitiger militärischer Neutralität.

Junger Altkanzler

Die Karriere von Sebastian Kurz verläuft steil: Im Alter von 16 Jahren begann er mit dem Politisieren, mit 24 wurde er Staatssekretär, mit 27 Aussenminister, mit 31 jüngster Bundeskanzler in der Geschichte Österreichs: zuerst in einer Koalition mit der FPÖ, dann mit den Grünen. Ermittlungen wegen Korruptionsverdachts führten im Oktober 2021 zum Rückzug des inzwischen 35-Jährigen von allen politischen Ämtern. In der Privatwirtschaft geht es weiter: Seit 2022 arbeitet Kurz unter anderem als «Global Strategist» bei Thiel Capital, einem bedeutenden Investor des kalifornischen Technologiesektors. Kurz ist seit der gemeinsamen Schulzeit mit der Wirtschaftspädagogin Susanne Thier (35) liiert und hat gemeinsam mit ihr ein sechsmonatiges Baby, Konstantin.

Die Karriere von Sebastian Kurz verläuft steil: Im Alter von 16 Jahren begann er mit dem Politisieren, mit 24 wurde er Staatssekretär, mit 27 Aussenminister, mit 31 jüngster Bundeskanzler in der Geschichte Österreichs: zuerst in einer Koalition mit der FPÖ, dann mit den Grünen. Ermittlungen wegen Korruptionsverdachts führten im Oktober 2021 zum Rückzug des inzwischen 35-Jährigen von allen politischen Ämtern. In der Privatwirtschaft geht es weiter: Seit 2022 arbeitet Kurz unter anderem als «Global Strategist» bei Thiel Capital, einem bedeutenden Investor des kalifornischen Technologiesektors. Kurz ist seit der gemeinsamen Schulzeit mit der Wirtschaftspädagogin Susanne Thier (35) liiert und hat gemeinsam mit ihr ein sechsmonatiges Baby, Konstantin.

Ist die Neutralität in der heutigen Zeit nicht vor allem ein Mythos?
Neutralität bedeutet nicht, keine Meinung zu haben, sondern militärisch neutral zu sein und gewisse Handlungen zu unterlassen, wie zum Beispiel bei Waffenlieferungen oder dem Entsenden von Truppen. Militärisch neutral zu sein, aber politisch trotzdem zu agieren – ist kein Widerspruch, und das ist auch wichtig. Selbstverständlich erlässt die Neutralität nicht von der Verantwortung, europäische Sanktionen mitzutragen.

Welche Bedeutung haben neutrale Staaten in der Welt?
Es ist gut und wichtig, wenn es auf der Welt kleine Staaten wie Österreich und die Schweiz gibt, die Brückenbauer sind und ein Ort für Gespräche. Beide haben hier für die Welt Grosses geleistet und den Dialog gefördert.

Reden wir über Russland: War der Westen naiv?
Ich habe viel darüber nachgedacht und frage mich: Selbst wenn Europa viel aggressiver gegen Russland aufgetreten wäre – vielleicht hätte das die Entstehung des Konflikts nicht verhindert, sondern beschleunigt: Wir wissen das nicht. Ich kenne jedenfalls niemanden, der diesen Angriffskrieg in diesem Ausmass vorhergesehen hat.

Sie haben Wladimir Putin mehrmals getroffen. Was geht in ihm vor?
Bis heute verstehe ich nicht, was das strategische Interesse Russlands ist, bis nach Kiew vorzudringen, und ich habe auch niemanden getroffen, der es versteht. Ich verurteile dieses Vorgehen aufs Schärfste: Viele Menschen verlieren täglich ihr Leben, ausgelöst durch die russische Aggression. Das Problem ist, dass die russische Führung einen vollkommen anderen Blick auf die Situation hat. Immer, wenn ich Präsident Putin damals getroffen habe, sprach er als Erstes von Versprechungen des Westens, die nicht eingehalten worden seien und von der Nato, die sich ausbreite. Beachtlich ist, wir sehen nun das Resultat – durch eine Mitgliedschaft von Schweden und Finnland ist die Nato geografisch gesehen, Russland näher als je zuvor.

Was haben Sie geantwortet?
Meine Haltung war immer klar: Ein freies Land kann frei entscheiden, wohin es sich orientieren will, und auch, ob es den europäischen Weg einschlagen will. Ich glaube, es war richtig, dass Europa so lange als möglich versucht hat, den Dialog zu suchen.

Wie kann dieser Krieg beendet werden?
Eine einfache Lösung gibt es nicht. Die Situation ist viel zu verfahren. Die gute Nachricht: Noch jeder Krieg hat irgendwann mit Verhandlungen geendet. Es gibt einen Funken Hoffnung, dass der Istanbuler Prozess zu einer positiven Dynamik führen kann.

Braucht es einen Kompromiss oder einen klaren Sieg der Ukraine?
Die Ukraine hat ein Recht auf ihre territoriale Souveränität. Es ist ein Angriffskrieg der Russen, der in unserem Jahrhundert undenkbar war. Daher braucht es für die Ukraine keine Tipps von aussen.

Die Ukraine will auch keine Tipps, sondern Waffen. Soll Europa mehr liefern?
Es ist absolut nachvollziehbar, dass die Ukraine sich verteidigen muss. Daher werden Waffen aus Europa geliefert. Als Österreicher bin ich immer zurückhaltend gewesen: Wir sind ein kleines, neutrales Land. Neutrale Staaten wie Österreich und die Schweiz dürfen, können und sollen das nicht tun. Das wird auch so bleiben.

Haben Sie Kontakt zur ukrainischen Führung?
Ja, die Klitschko-Brüder sind Freunde von mir. Präsident Selenski kenne ich gut aus meiner Zeit als Regierungschef. Ich habe auch nach wie vor Gesprächspartner auf der russischen Seite. Daher kann ich nur wiederholen, dass es wichtig ist, möglichst schnell zu Verhandlungen zu kommen.

Brauchts den europäischen Boykott von russischem Öl und Gas?
Der Krieg zeigt, wie wichtig es ist, so gut wie möglich unabhängig zu sein. Europa wird bei Rohstoffen immer in einer gewissen Abhängigkeit gegenüber anderen Teilen der Welt sein. Erneuerbare Energien bleiben da eine grosse Chance, deutlich unabhängiger zu werden.

Wie lange hält die Einigkeit im Westen? In Ungarn bröckelt es bereits.
Es gibt 27 Mitgliedsstaaten in der EU. Verschiedene Meinungen sind normal. Grundsätzlich tritt die EU hier sehr geeint auf – und das ist gut so.

Wie gross schätzen Sie die Gefahr einer Eskalation auf weitere Länder ein?
Ich glaube nicht, dass ein solches Horrorszenario sehr wahrscheinlich ist, und es gilt alles zu tun, um das zu verhindern. Gleichzeitig gibt es bei kriegerischen Auseinandersetzungen immer das Restrisiko einer totalen Eskalation.

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