Hunderte Wohnungssuchende erleben Riesenfrust bei Besichtigung in Zürcher Aussenquartier
«So etwas habe ich noch nie gesehen!»

Die Wohnungsnot in Zürich spitzt sich immer weiter zu. An einem Besichtigungstermin im Zürcher Stadtquartier Seebach tauchen mehrere Hundert Interessenten auf. Ein Augenschein.
Publiziert: 08.02.2024 um 00:06 Uhr
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Aktualisiert: 08.02.2024 um 12:51 Uhr
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So sah die Warteschlange im Zürcher Stadtquartier Seebach am offiziellen Start der Besichtigung um 17 Uhr aus.
Foto: Blick
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Martin SchmidtRedaktor Wirtschaft

Die Stimmung am Kolbenacker in der Stadt Zürich ist deprimierend: Mehrere Hundert Wohnungssuchende stehen an diesem Mittwochabend vor einem kernsanierten Mehrfamilienhaus. Dabei fängt der offizielle Besichtigungstermin gerade erst an. Doch die ersten Interessenten waren mehr als eine Stunde zu früh da. Am Höhepunkt ist die Warteschlange 150 Meter lang, reicht die ganze Zufahrtsstrasse hinunter bis zum nächsten Wohnhaus.

Und das im Seebach-Quartier, wo Verwaltungen vor einigen Jahren das Problem hatten, dass an Besichtigungen oft nur Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger aufgekreuzt sind. Die Wohnungen wurden zum Teil mehrfach ausgeschrieben. Doch das war einmal. Inzwischen sind die langen Warteschlangen in Zürich in den Aussenquartieren angekommen. Das Mehrfamilienhaus am Kolbenacker ist mit dem öffentlichen Verkehr eine halbe Stunde vom Hauptbahnhof entfernt.

«Wie bei Justin-Bieber-Konzert»

Der Geschäftsführer der Zürcher Immobilienfirma hat mit dem Ansturm gerechnet. «Wir haben in dem Quartier bereits vor einem Jahr Mieter für ein Mehrfamilienhaus gesucht und der Aufmarsch war riesig. Seither hat sich die Situation weiter verschärft», sagt er zu Blick. Trotzdem ist der Mann vom Anblick beeindruckt. «Wir haben hier Warteschlangen wie bei einem Justin-Bieber-Konzert.» Er möchte anonym bleiben. Sein Name und jener der Firma tun auch nichts zur Sache. Sie sind nicht für die Wohnungsnot in Zürich verantwortlich.

Minütlich treffen weitere Leute ein, erblicken die Warteschlange und schütteln resigniert den Kopf. «So etwas habe ich noch nie gesehen», sagt einer der Wartenden im Gespräch. Gesprochen wird nur wenig. Viele sind in Gedanken versunken. Überlegen sich womöglich, wie sie aus der Hundertschaft an Interessenten herausstechen könnten. Oder sie berechnen im Kopf die Wahrscheinlichkeit, eine der Wohnungen zu erhalten. Sie mag wie ein Lotto-Gewinn erscheinen.

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Tausende Mail-Anfragen

Vor dem Eingang unterteilt der Geschäftsführer die Wartenden in drei Schlangen. Je nachdem, ob sie zur Besichtigung einer 1-Zimmer-, 2,5-Zimmer- oder 3,5-Zimmer-Wohnung hier sind. 24 Wohnungen sind zu vergeben. Eine 1-Zimmer-Wohnung mit 29,3 Quadratmeter kostet 1290 Franken. 2,5 Zimmer mit 51 Quadratmeter gibt es für 1700 Franken und die 3,5 Zimmer mit 60,7 Quadratmeter für 2000 Franken. Damit sind sie für Stadtzürcher Verhältnisse überaus preiswert.

Ein junger Mann wird am Eingang abgewiesen. Er hat die Bewerbungsunterlagen mit dem Anmeldeformular, Betreibungsregisterauszug und Ausweisdokument vergessen – obwohl die Verwaltung in ihren Inseraten darauf hingewiesen hat. Die Verwaltung erhalte für die Überbauung Tausende Mail-Anfragen, sagt der Firmenchef zum Pechvogel. Es liege schlicht nicht drin, Bewerbungen per Mail zu berücksichtigen.

Auch Sozialhilfeempfänger kriegen eine Chance

Gruppenweise werden Wartende in das Haus gelassen. Eine junge Frau spricht mit dem Geschäftsführer, stellt mehrere Fragen, lächelt. Ein Mann erzählt beim Abgeben seiner Bewerbungsunterlagen, dass sein Gehalt variabel sei und er bei der Lohnangabe eher tief gestapelt habe. Es bleibt nichts unversucht. «Einige Leute bringen bei uns im Büro Geschenke wie Schokolade vorbei», erzählt der Firmenchef später und betont, dass man bei der Auswahl Wert auf Fairness lege.

Die Firma besitzt und verwaltet in und rund um Zürich über 1000 Wohnungen. «Wir achten bei unseren Überbauungen auf eine soziale Durchmischung», so der Chef. Jung, alt, Männer, Frauen, unterschiedliche Nationalitäten, Familien – der Mix sei wichtig. Auch Sozialhilfeempfänger hätten eine Chance. «Wir berücksichtigen in Seebach jeweils ein bis zwei pro Überbauung», hält er fest. Bei einer grösseren Zahl wäre das Risiko von Mietausfällen schlicht zu hoch.

Bauchgefühl gibt den Ausschlag

Der Lohn sei bei der Auswahl ein entscheidendes Kriterium. «Bei vielen Bewerbern macht die Miete deutlich mehr als ein Drittel des Gehalts aus. Das geht nicht auf», sagt er. Allerdings: Wer besonders viel verdient, hat am Kolbenacker ebenfalls schlechtere Karten. Es hätte Bewerbungen mit Monatslöhnen von beispielsweise 14'000 Franken gegeben. Mit einem solchen Gehalt habe man in Zürich aber viel mehr Alternativen als Geringverdiener.

Auf die Besichtigung vom 24. Januar folgte noch eine zweite. Insgesamt seien 1488 Bewerbungen eingereicht worden. «Da dreht man bei der Auswahl fast durch. Am Ende verlasse ich mich auf mein Bauchgefühl», so der Firmenchef. Die 24 Wohnungen sind inzwischen vergeben. Auf einigen Gesichtern aus der Warteschlange wird der Frust einem Lächeln gewichen sein. Die Glücklichen können im März einziehen.

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