Studie von Avenir Suisse widerspricht Gewerkschaften
«Öffnende Lohnschere ein Märchen!»

Eine sich immer weiter öffnende Lohnschere zwischen Reich und Arm in der Schweiz? «Ein Märchen!», sagt Avenir-Suisse-Direktor Peter Grünenfelder. Seine liberale Denkfabrik hinterfragt in einer Studie die Bedeutung des Lohnschutzes in der Schweiz.
Publiziert: 17.11.2022 um 00:00 Uhr
|
Aktualisiert: 17.11.2022 um 14:04 Uhr
1/10
Die Bauarbeiter wie hier in Zürich ...
Foto: keystone-sda.ch
RMS_Portrait_AUTOR_209.JPG
Nicola ImfeldTeamlead Wirtschaft-Desk

Was haben die Pilotin, der Bauarbeiter und die Pflegerin gemeinsam? Sie alle sind unzufrieden mit ihrem Lohn! Die einen drohten mit Streik, die anderen haben ihre Arbeit kurzfristig niedergelegt. Die Arbeitskämpfe in der Schweiz sorgen in diesem Herbst für besonders hitzige und giftige Diskussionen. Ausgerechnet jetzt publiziert die liberale Denkfabrik Avenir Suisse eine neue Studie, die Blick vorab vorliegt. Sie schiesst frontal gegen die Gewerkschaften – und hinterfragt die Bedeutung des Lohnschutzes.

«Es geht uns in der Schweiz viel besser, als die Gewerkschaften uns vorgaukeln wollen», sagt Peter Grünenfelder (54), Direktor von Avenir Suisse, zu Blick. «In der Schweiz sind Einkommen und Wohlstand breit verteilt, was wesentlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist.» Er stützt seine Aussagen auf Daten: Zwischen 2008 und 2020 haben die tiefsten zehn Prozent der Löhne in der Schweiz gleich stark zugelegt wie die Löhne der zehn Prozent, die am besten verdienen – nämlich um fast zwölf Prozent.

Öffnende Lohnschere sei ein Märchen

Bemerkenswert: Die Löhne der niedrig Qualifizierten sind relativ betrachtet sogar stärker gestiegen als jene der hoch Qualifizierten. «Die sich öffnende Lohnschere ist ein gewerkschaftliches Märchen», sagt Grünenfelder, der für die FDP im Kanton Zürich als Regierungsrat kandidiert. «Mit ihren verzerrten Aussagen fördern die Gewerkschaften nur die Neidkultur in der Schweiz.»

Das habe nichts mit Neid zu tun, widerspricht Daniel Lampart (54), Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), auf Blick-Anfrage. «Immer mehr Arbeitnehmende haben Mühe, wegen der Teuerung und dem Prämienschock über die Runden zu kommen. Diese Leute haben einen Anspruch darauf, vom Lohn anständig leben zu können.» Kommt hinzu: Bei einem Lohn von 40'000 Franken im Monat ist dieser seit 2008 um mehr als 4000 Franken gestiegen. Bei einem Monatslohn von 4000 Franken betrug der Lohnanstieg in absoluten Zahlen lediglich 400 Franken.

Ärmsten der Gesellschaft profitieren nicht von Mindestlohn

Dass sich die Lohnschere in der Schweiz nicht weiter öffnet, sind gute Nachrichten. Aber die Denkfabrik warnt auch: Der Mythos vom liberalen Arbeitsmarkt mit flexiblen Arbeitsverhältnissen entspreche im Jahr 2022 immer weniger der Realität. Der Staat greife zu stark ein – auf Druck der Gewerkschaften.

Als eines der Beispiele führen die Studienautoren die kantonalen Mindestlöhne ins Feld. Seit das Schweizer Stimmvolk 2014 einem nationalen Mindestlohn eine Absage erteilt hat, sind in fünf Kantonen Mindestlöhne eingeführt worden. Doch die hohen und stets gestiegenen Schweizer Löhne seien nicht solchen Massnahmen geschuldet, sondern einem flexiblen Arbeitsmarkt mit bewährter Sozialpartnerschaft. «Mindestlöhne taugen nicht als sozialpolitisches Instrument», sagt Grünenfelder. Die Zahl, die seine Denkfabrik dafür ins Feld führt: Neun von zehn Armutsbetroffenen seien nicht oder nur Teilzeit erwerbstätig – die Ärmsten der Gesellschaft würden also gar nicht von Mindestlöhnen profitieren.

Gewerkschafter Daniel Lampart widerspricht: «Kantonale Mindestlöhne dienen dazu, das Existenzminimum durchzusetzen.» Es sei besorgniserregend, wenn ein Verband wie Avenir Suisse Löhne fordere, die nicht zum Leben reichen. «Und das nur, damit die Firmen mehr Gewinn machen können. Zahlen soll dann die Allgemeinheit – über die Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen.»

GAV als Garant für Arbeitsfrieden

Neben den Mindestlöhnen sieht Avenir Suisse auch die allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträge (GAV) als Gefahr. Die GAV können – unter gewissen Voraussetzungen – für allgemeinverbindlich erklärt werden. Bedeutet: Sie gelten auch für Firmen und Beschäftigte, die nicht Mitglied in einem Verband oder einer Gewerkschaft sind. Dadurch werde die freie Lohnfestsetzung im Betrieb erschwert und teilweise verunmöglicht, heisst es in der Studie.

«Es gibt eine schleichende Vergewerkschaftung des Arbeitsmarktes», sagt Grünenfelder zu Blick und verweist auf die Daten: Innert 15 Jahren hat sich die Zahl der Arbeitnehmenden, die schweizweit einem allgemeinverbindlichen GAV unterstellt sind, mehr als verdreifacht. «Die politische Mitsprache bei der Lohnfestsetzung ist damit bereits heute helvetische Realität», so Grünenfelder.

Beim Arbeitgeberverband sieht man die Gesamtarbeitsverträge grundsätzlich positiv. «Dank der GAV haben wir einen Arbeitsfrieden in der Schweiz und kaum Streiks. Das ist einer der Erfolgsfaktoren unseres Landes.» Auch Grünenfelder will keineswegs auf Gesamtarbeitsverträge verzichten. «Aber mit Augenmass und nur dort, wo es sinnvoll ist», sagt er.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.