Die Löhne in der Schweiz steigen so stark wie seit fast 15 Jahren nicht mehr. Arbeitskräfte in der Schweiz können sich 2023 auf durchschnittlich 2,2 Prozent mehr Lohn freuen, wie die grosse Lohnumfrage der UBS zeigt. «Die 2,2 dürften aber kaum zu Freudensprüngen bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern führen», sagt UBS-Ökonom Florian Germanier.
Schuld ist die hohe Inflationsrate. Die Schweizerische Nationalbank rechnet für dieses Jahr mit einer Teuerung von 3 Prozent. «2022 rechnen wir aktuell mit einem Rückgang des Reallohns von 1,8 Prozent. Das ist der höchste Einkommensverlust seit 1942.»
Auch im nächsten Jahr dürften die Reallöhne höchstens stagnieren, denn die Inflationsrate dürfte weiterhin klar über 2 Prozent bleiben. Die UBS erwartet deshalb nicht, dass der diesjährige Lohnverlust kompensiert wird. «Vor diesem Hintergrund ist ein Lohnanstieg von nur 2,2 Prozent überraschend», so Germanier.
«Gewerkschaften hatten überzogene Erwartungen»
Die Gewerkschaften warnen denn auch vor einem Kaufkraftverlust. Unia-Sprecher Christian Capacoel legt den Finger besonders auf den Detailhandel, wo die Lohnverhandlungen noch laufen. «Es handelt sich um eine Tieflohnbranche mit besonders vielen Alleinerziehenden, die teilweise unfreiwillig Teilzeit arbeiten und schon heute jeden Franken zweimal umdrehen müssen.» Die grossen Detailhändler wie etwa Migros und Coop könnten sich reale Lohnerhöhungen leisten, findet der Gewerkschafter.
Auch auf dem Bau haben sich die Sozialpartner noch nicht geeignet, es kommt in diesen Tagen in verschiedenen Landesteilen zu Streiks, unter anderem am Freitag in Zürich.
Der Arbeitgeberverband hält dagegen: «Die Gewerkschaften hatten von Beginn weg überzogene Erwartungen», kritisiert Sprecher Andy Müller. Die Unia etwa hatte generelle Lohnerhöhungen von 4 bis 5 Prozent gefordert – die UBS-Lohnumfrage zeigt nun, dass dies in den meisten Branchen illusorisch bleibt.
Die Konjunkturaussichten seien trübe, warnt Müller. «Es droht eine Energiemangellage und wir kämpfen mit Lieferkettenproblemen. Es ist der falsche Moment, mit der grossen Kelle Lohnerhöhungen durchzuführen.»
Die Teuerung gehe ausserdem bereits wieder zurück, so der Arbeitgeberverband. Tatsächlich reduzierte sie sich zuletzt von noch 3,5 Prozent im August auf zuerst 3,3 Prozent im September und nun gar 3 Prozent im Oktober. Die Schweiz mutiert damit international zum Teuerungs-Sonderfall. In der Eurozone etwa liegt die Inflation auf rekordhohen 9,9 Prozent.
Gastronomie und Beherbergung mit deutlichem Lohnplus
Die UBS hat für ihre Lohnumfrage 290 Unternehmen aus 22 Branchen befragt. Da in diesen über 90 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt werden, schafft die Umfrage einen detaillierten Überblick über die Situation im Land.
Dabei zeigt sich, dass die Löhne in einigen Branchen deutlich stärker anziehen. Die grössten Gewinner sind Angestellte in der Uhren- und Schmuckbranche, im Grosshandel und in der IT-Branche. Für sie geht es im Durchschnitt 3 Prozent nach oben.
Aber auch in Tieflohnberufen in der Tourismusbranche ziehen die Löhne deutlich an. Beschäftigte in der Beherbergung und Gastronomie erhalten ebenfalls 3 Prozent mehr. «Der Personalmangel hat dort einen überdurchschnittlichen Anstieg ermöglicht», sagt Germanier.
Fachkräftemangel trifft die Firmen immer stärker
Dass die Firmen die Löhne nicht stärker erhöhen, führt die UBS auf den eingetrübten Wirtschaftsausblick zurück. Ein Drittel der Unternehmen rechnet gar mit einer Rezession – ein Jahr davor waren es bloss 3 Prozent. Der Einfluss der wirtschaftlichen Situation auf Lohnerhöhungen dürfte nicht unterschätzt werden, so Germanier. Was bei den Firmen ebenfalls gegen stärkere Lohnerhöhungen gesprochen hat: Viele von ihnen rechnen im nächsten Jahr mit einem Rückgang der Inflation.
Für die Beschäftigten positiv ausgewirkt hat sich hingegen der allgegenwärtige Fachkräftemangel. Im letzten Jahr gaben rund 66 Prozent der Firmen an, Probleme bei der Stellenbesetzung zu haben. In diesem Jahr waren es schon 80 Prozent. Nur 7 Prozent der Firmen können offene Stellen innerhalb der geplanten Fristen besetzen. Der Fachkräftemangel sei denn auch der stärkere Ansporn für Lohnerhöhungen als die Inflation, so der Arbeitgeberverband.
Die Lohnrunde entscheidet mit, wie sich die Inflation in der Schweiz im nächsten Jahr entwickelt. «Aktuell ist die Inflation vor allem durch die Energiepreise getrieben. Je nach Lohnrunde könnten die Löhne zum Haupttreiber werden», sagt UBS-Ökonom Alessandro Bee. Mit der Lohnerhöhung von 2,2 Prozent droht gemäss UBS jedoch keine Lohn-Preis-Spirale.