Matti Nykänen ist eine der schillerndsten Figuren, die das Skispringen je hatte. Mit 18 Jahren wurde er Weltmeister, mit 19 gewann er die Vierschanzentournee und mit 20 krönte er sich zum Olympiasieger. Der Finne ist früh hoch und weit geflogen – und danach tief gefallen. Vor fünf Jahren, am 4. Februar 2019, starb Nykänen überraschend. Er wurde nur 55 Jahre alt.
Seinen Durchbruch schaffte Nykänen 1982, als er in Oslo (No) zu WM-Gold auf der Grossschanze flog. Es sollte der erste von zahlreichen Titeln sein. Denn in den folgenden Jahren dominierte er das Skispringen. Insgesamt gewann er fünf Olympia- und 16 WM-Medaillen, entschied viermal den Gesamtweltcup für sich.
Olympia
1984: Gold Grossschanze; Silber Normalschanze
1988: Gold Grossschanze; Gold Normalschanze; Gold Team
Weltmeisterschaften
1982: Gold Grossschanze; Bronze Team
1984: Gold Grossschanze; Gold Team; Silber Normalschanze
1985: Gold Team; Bronze Grossschanze
1987: Gold Team; Silber Normalschanze
1989: Gold Team; Bronze Grossschanze
Skiflug-WM
1983: Bronze Einzel
1985: Gold Einzel
1986: Bronze Einzel
1988: Bronze Einzel
1990: Silber Einzel
46 Weltcupsiege
1. im Gesamtweltcup: 1982/83, 1984/85, 1985/86, 1987/88
Olympia
1984: Gold Grossschanze; Silber Normalschanze
1988: Gold Grossschanze; Gold Normalschanze; Gold Team
Weltmeisterschaften
1982: Gold Grossschanze; Bronze Team
1984: Gold Grossschanze; Gold Team; Silber Normalschanze
1985: Gold Team; Bronze Grossschanze
1987: Gold Team; Silber Normalschanze
1989: Gold Team; Bronze Grossschanze
Skiflug-WM
1983: Bronze Einzel
1985: Gold Einzel
1986: Bronze Einzel
1988: Bronze Einzel
1990: Silber Einzel
46 Weltcupsiege
1. im Gesamtweltcup: 1982/83, 1984/85, 1985/86, 1987/88
Der Finne war ein Superstar seines Sports. Und ist an diesem Erfolg zerbrochen. Denn nach der Karriere ist er so abgestürzt, wie man es niemandem wünscht. Nach seinem Rücktritt 1991 rutschte Nykänen immer tiefer in eine Alkoholkrankheit, mit der er schon als Spitzensportler zu kämpfen hatte.
Schlägerei mit Teamkollege
1985 weilte er im Rahmen des Weltcups in Lake Placid (USA). Betrunken lieferte er sich einen Boxkampf mit Teamkollege Mika Kojonkoski (60), ging auch Betreuer Kari Ylianttila (70) an die Gurgel. Die Konsequenzen: Nykänen wurde vorzeitig nach Hause geschickt und durfte auch an der Vierschanzentournee nicht teilnehmen. Ein Jahr später randalierte er an seinem Wohnort Jyväskylä (Fi) erst in einer Kneipe und später zu Hause. Die Polizei steckte ihn für eine Nacht ins Gefängnis. Es war nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass er mit dem Gesetz in Konflikt geriet.
Während eines Trainingslagers 1986 brach Nykänen in den Kiosk der Sportschule ein – er wurde zu einer Geldstrafe und vier Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Ein Jahr später sorgte er nach dem letzten Springen der Vierschanzentournee in Bischofshofen (De) mit einem Boxkampf in einer Disco für Schlagzeilen – und trug eine gebrochene Nase davon.
Wie er es trotzdem schaffte, bei den Wettkämpfen nicht betrunken aufzutauchen, verriet Nykänen in seiner 2003 erschienenen Biografie «Grüsse aus der Hölle». «Immer, wenn ich etwas trank, rechnete ich auf der Armbanduhr die Stunden durch, die ich benötigte, um wieder im Vollbesitz meiner Sinne zu sein, um von der Schanze springen zu können.» Ging seine Rechnung nicht auf und er erschien verkatert beim Training, tat er alles, um sich nichts anmerken zu lassen. «Mit besonders gutem und engagiertem Training büsste ich für die Sünden der Nacht zuvor», so Nykänen.
Alkohol, um zu vergessen
Nach seinem Rücktritt folgte der totale Absturz. Der Alkoholkonsum nahm zu. «Ich stand viele Jahre im Mittelpunkt, alle haben sich um mich gerissen», erzählte Nykänen 2012 der «Welt am Sonntag». «Ich hatte es satt, es war zu viel. Ich war unglücklich und habe angefangen, in mir drinnen eine Mauer hochzuziehen.» Der Alkohol half ihm dabei. «Ich habe getrunken, weil ich nichts anderes zu tun hatte, weil ich vergessen wollte.»
Hinzu kamen unerwartete finanzielle Forderungen. Nach dem Karriereende dauerte es nicht lange, bis Nykänen pleite war. Erst wollte das finnische Finanzamt rund 126'000 Franken von ihm, und als sich seine erste Frau Tiina Hassinen von ihm scheiden liess, musste er sein Haus verkaufen, um die geforderten rund 108'000 Franken bezahlen zu können. Insgesamt war Nykänen sechsmal mit fünf verschiedenen Frauen verheiratet und hatte drei Kinder.
Um seiner finanziellen Not zu entkommen, ergriff der einstige Skisprung-Star ungewohnte Massnahmen. Er verkaufte seine Olympiamedaillen, versuchte sich als Sänger, Stripper und Nebendarsteller in billigen Erotikstreifen. Die sportlichen Erfolge verblassten immer mehr. Auch, weil Nykänen mehrfach im Gefängnis sass.
Anklage wegen versuchten Mordes
So wurde er etwa im Herbst 2004 zu 26 Monaten Haft verurteilt. Während eines Saufgelages mit seiner damaligen Frau Mervi Tapola und einem Freund stach er diesem ein Messer in den Rücken. Nykänen wurde wegen versuchten Mordes angeklagt. Da alle Beteiligten zum Tatzeitpunkt betrunken waren und sich der Angeklagte bei seinen Aussagen widersprach, konnte nicht geklärt werden, was genau passiert war. Nykänen wurde letztlich wegen schwerer Körperverletzung verurteilt.
Nach der Hälfte der Haftstrafe wurde Nykänen auf Bewährung entlassen. Und griff sofort wieder zur Flasche. Vier Tage später wurde er betrunken seiner Frau gegenüber gewalttätig. Und das nicht zum ersten Mal. Tapola, die er 2001 heiratete, reichte während ihrer neunjährigen Ehe 15-mal die Scheidung ein. Allerdings zog sie den Antrag jedes Mal zurück. Und als sie es einmal vergass, heiratete das Paar kurzerhand wieder.
Gegen Ende ihrer Ehe wurde Nykänen wegen Misshandlung zu 16 Monaten Haft verurteilt. Als er dieses Mal im Gefängnis sass, dachte er an Selbstmord. «Ich wusste schon, woher ich die Waffe bekomme, um dieser Hölle ein Ende zu bereiten», verriet er damals.
Wollte 100 Jahre alt werden
Dabei wollte Nykänen mehr als einmal seinen Lebensstil ändern. Zu seinem 40. Geburtstag 2003 sagte er, er möchte 100 Jahre alt werden. Ein Jahr später erlitt er einen Herzinfarkt. Und als er 50 wurde, behauptete er, sein Leben im Griff zu haben. Doch damit schien er sich selbst zu täuschen. Denn von der Flasche kam er nie los.
Auch nicht, als er 2018 die Diagnose Diabetes erhielt. «Zuerst hatte ich Angst», sagte Nykänen der Zeitung «Aamulehti» über seine Krankheit. «Aber ich habe die richtige Insulinbalance gefunden, und meine Energie und Liebe zum Leben sind zurückgekehrt. Es fühlt sich verdammt gut an.»
Eine Energie, die ein Jahr später erlosch. Dass sein Leben nicht gut ausgehen würde, ahnte Nykänen schon sieben Jahre vor seinem überraschenden Tod. Damals antwortete er auf die Frage, was er am meisten bereue: «Ich hätte niemals so viel trinken sollen.»
Die Todesursache wurde zunächst als «krankheitsbedingt» umschrieben, ein Zusammenhang mit der Alkoholkrankheit wurde vermutet. Nykänens Schwester machte erst Monate nach seinem Tod öffentlich, dass er an einer Bauchspeicheldrüsen- und Lungenentzündung gestorben war. (bir)