Die Kraft des Sports
Die berührende Lebensgeschichte von Rugby-Spielerin Stadelmann

Zu dick, zu laut, zu dunkel: Als Kind wurde Angela Stadelmann gemobbt. Dank des Rugby-Sports fand sie ins Leben zurück und entdeckte ihre Weiblichkeit. Das Porträt einer aussergewöhnlichen Frau.
Publiziert: 00:14 Uhr
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In ihrem Leben dreht sich fast alles um den Rugby-Sport: Angela Stadelmann (l.).
Foto: HJG
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Daniel LeuStv. Sportchef

Diese Sätze haben sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt. «Du hast ein schönes Gesicht, aber du bist fett.» Oder: «Ich laufe nicht mit dir nach Hause, denn ich will von den anderen nicht an deiner Seite gesehen werden.» Oder: «Wir sind froh, wenn du später mal nicht auf dem Sozialamt landest.»

Angela «Angie» Stadelmann sitzt an diesem Freitagnachmittag in ihrer Wohnung im luzernischen Horw. Dass sie heute so offen über die Erniedrigungen und Beleidigungen von früher reden kann, verdankt sie in erster Linie dem Sport. «Rugby hat mein Leben gerettet. Dank Rugby fühle ich mich heute sexy», sagt die 40-Jährige und beginnt ihren Weg vom dicken und traurigen Kind zur starken und lebensfrohen Frau zu erzählen.

Es ist eine Geschichte, die eindrücklich beweist, wie gross die Kraft des Sports sein kann. Und dass es im Sport eben nicht immer nur um Sieg, Ruhm und Geld geht, sondern auch um Selbstwert, Eigenliebe und das Akzeptieren des Körpers.

Zu dick, zu laut, zu dunkel

Angie Stadelmann wird 1984 im kolumbianischen Medellín geboren. Sie wird von ihrer Mutter im Spital einfach zurückgelassen. Mit neun Monaten kommt sie in die Innerschweiz. Sie wächst bei ihren Adoptiveltern in bescheidenen Verhältnissen auf. Als sie drei ist, verlässt der Vater die Familie. Sie und ihr fünf Jahre älterer Bruder, der ebenfalls aus Kolumbien stammt, bleiben bei der Mutter.

Es ist ein Leben unter dem Existenzminimum. «Mein Mami trug oft den gleichen Pullover. Ich dachte immer, sie mag diesen besonders gerne. Erst später realisierte ich, dass dies ihr einzig schöner war.» Während ihre Mitschülerinnen im Sommer jeweils ans Meer reisen, verbringt sie – wenn überhaupt – die Ferien auf dem Bauernhof. «Danach hiess es in der Schule immer: ‹Ferien auf dem Bauernhof – voll peinlich.›»

In der Familie, auf der Strasse, in der Schule – Klein Angie fällt überall auf, da sie nicht dem Bild des dünnen, herzigen Schweizer Mädchens entspricht. Ihre Haut ist dunkler, ihre Haare lockiger, ihre Stimme lauter, ihr Körper fülliger. Als die Stadelmanns mal alle zusammen einen Zoo besuchen, muss sie als Einzige zu Hause bleiben, weil die Grossmutter Mühe damit hat, dass sie so anders aussieht und sie deshalb nicht dabeihaben will. Und auch in der Schule wird sie regelmässig gehänselt, von den Mitschülerinnen, aber auch von den Lehrern, die ihr nichts zutrauen.

Während ihrer Pubertät wird die Ausgrenzung immer schlimmer. «Niemand konnte mir helfen und zur Seite stehen. Meine Mutter war genug damit beschäftigt, die Familie über die Runden zu bringen. Wenn du Tag für Tag hörst, du seist zu dick und zu doof, dann glaubst du das irgendwann. Ich habe deshalb in jenen Jahren alles ausgetestet – Diäten, Bulimie, Magersucht. Oft stand ich vor dem Spiegel und dachte: Ich bin so hässlich. Oder ich ass etwas und musste dabei weinen.»

Ihr Leben – ein Trümmerhaufen. Doch dann kommt jener Samstagabend, der für immer ihr Leben verändern sollte.

Stadelmann ist damals 19, als sie bei Freunden zu Besuch ist. Plötzlich taucht die Schwester eines Kollegen dort auf. Mit blutigen Knie. «Ich fragte sie, was passiert sei. Als sie mir erklärte, dass sie Rugby spiele und auf dem Platz alle Energie rauslassen könne, machte es Klick bei mir. Ich dachte: Das ist genau das, was ich mein Leben lang gesucht habe.» Stadelmann fährt sofort nach Hause, schleift sich ihre langen French Nails runter und geht drei Tage später zum ersten Mal in ihrem Leben ins Rugby-Training. Es ist der Startschuss in ein neues, besseres Leben.

Herz kaputt, Job kaputt, Kreuzband kaputt

Gut zwei Jahrzehnte nach diesem Aha-Erlebnis sitzt Stadelmann noch immer an ihrem Küchentisch. Spricht sie über jenen Moment, der ihr Leben in neue Bahnen lenken sollte, funkeln ihre Augen. Blick man sich in ihrer Wohnung um, ist der Rugby-Sport omnipräsent. An den Wänden hängen zwei ihrer Nationaltrikots, in einem Behälter liegen unzählige Bälle.

«Bereits beim ersten Training spürte ich: Hier gehöre ich hin», erinnert sich Stadelmann, «denn meine Mitspielerinnen gaben mir gleich das Gefühl, dass sie mich brauchen und mich so nehmen, wie ich bin. Egal ob ich ein paar Kilos zu viel habe.» Schnell einmal sind für Stadelmann die Dangels (das Frauenteam des Rugby Club Luzern) mehr als nur Sportkolleginnen, sie sind eine Familie. «Wir haben gemeinsam viele Schicksalsschläge, zum Beispiel Todesfälle von Angehörigen, durchgemacht. Es gibt aber immer mal wieder auch schöne Momente. Einmal durfte ich einer Kollegin beim Entbinden ihres Babys helfen. Solche Erlebnisse schweissen einen enorm zusammen.»

Mit den Dangels wird Forward Stadelmann mehrfach Schweizer Meister. 2011 ist sie Mitbegründerin der Schweizer Rugby-Nati, 2018 zieht es sie wegen des Sports auf die Fidschi-Inseln. Was traumhaft beginnt, endet in einem Tiefpunkt. Stadelmann, die vor der Abreise als Pflegefachfrau arbeitet und als verheiratete Frau abfliegt, verliebt sich am anderen Ende der Welt in einen anderen Menschen. Stadelmann trennt sich von ihrem Mann. Doch dann verletzt sie sich schwer. Als sie nach einem halben Jahr wieder in die Schweiz zurückkehrt, ist alles weg: die alte Liebe, die neue Liebe, der Job. «Mein Herz war kaputt, mein Kreuzband war kaputt, meine Beziehung war kaputt. Ich habe mir damals ein paarmal gewünscht, dass ein Bus mich über den Haufen fährt.»

Sie alleine entscheidet, was sie zeigt

Angie Stadelmann redet auch über jene schwierige Zeit ohne Tabus. «Rückblickend weiss ich, dass ich auch damals noch immer versucht habe, der Norm zu entsprechen und ein gegen aussen perfektes Leben zu führen.» Und sie realisiert noch einmal, wie wichtig ihr der Rugby-Sport ist und dass sich ihr Leben vor allem darum drehen soll.

Was das bedeutet, sieht man heute auch an ihrem Körper. Auf ihrem Bein ist eine Frau mit einem Rugbyball tätowiert. Auf der Flanke hat sie das Logo ihres Klubs stechen lassen. Und auf dem Oberarm steht RCL (Rugby Club Luzern).

Zu sehen ist all das auch auf ihrem Instagram-Kanal. Auf vielen der Fotos hat Stadelmann kaum etwas an, meist aber einen Rugbyball an ihrer Seite. «Ich will zeigen, dass jede Frau sexy sein kann, auch wenn sie nicht dem gängigen Schönheitsideal entspricht. Ich alleine entscheide, was ich zeige. Das ist Emanzipation.»

Spricht Stadelmann über dieses Thema, kommt sie so richtig in Fahrt. Sie kann nicht verstehen und akzeptieren, dass Männer auf Instagram ihre entblösste Brust zeigen dürfen, ihr Konto aber gesperrt wird, wenn ihre Brustwarze hervorschaut. «Unsere Gesellschaft bewertet Frauenkörper noch immer anders als die der Männer. Niemand hat das Recht, mir vorzuschreiben, wie ich mich präsentiere, und niemand darf mich wegen meiner Fotos in eine Schublade stecken. Diese Denkweisen möchte ich brechen, da ich aus meiner Vergangenheit weiss, wozu das führen kann. Ich passte damals in keine Schublade rein. Deshalb wurde ich gehänselt, und es entstanden viele Narben.»

Einen grossen Wunsch hat sie noch

Schaut Stadelmann heute in den Spiegel, sieht sie eine durchtrainierte Frau. Aus den Fettpölsterchen wurden Muskeln. Aus einer Frau, die vor allem anderen gefallen wollte, wurde eine Frau, die sich selbst liebt und das auch ausstrahlt. Nur etwas ist in all den Jahren gleich geblieben: ihre Liebe zum Rugby. Dass sie mit 40 Jahren für eine Sportlerin schon eher alt ist, beschäftigt sie nicht. «Solange ich Lust habe, mache ich weiter. Später würde ich gerne mal mit meiner Lebensgeschichte eine Inspiration für andere sein. Und ein Vorbild, wie ich es früher leider nie hatte.»

Und noch etwas wünscht sich Stadelmann: «Ich würde gerne meine leiblichen Eltern kennenlernen, denn ich möchte verstehen, warum mich damals meine Mutter im Spital zurückgelassen hat. Doch leider habe ich sie bislang selbst mithilfe eines Detektivs noch nicht gefunden.»

Es ist möglicherweise der einzige Wunsch, den Angela Stadelmann in ihrem Leben nicht umsetzen kann.

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