Was soll diesen Mann aufhalten? Nicht einmal eine handfeste Karambolage bringt US-Supersprinter Noah Lyles (26) aus dem Tritt. So geschehen am Donnerstagabend an den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Budapest, als vor dem Halbfinal über 200 m der Männer zwei Athleten-Transportfahrzeuge wuchtig ineinanderknallen. Beim Unfall wird ein WM-Helfer herausgeschleudert, der Jamaikaner Andrew Hudson bekommt Glassplitter ins Auge.
Und Lyles? Der sorgt erst dafür, dass Hudson medizinisch versorgt wird, sprintet dann entspannt in den Final. Einen Tag später bringt er den Job zu Ende: Er holt Gold über 200 m, seinen zweiten Titel an dieser WM. Der Titel, mit dem er das Double perfekt macht, nachdem er am vergangenen Sonntag bereits Gold über 100 m gewonnen hat. Das ist ein Meilenstein für den Mann, der sich selbst jetzt schon für den Grössten der Gegenwart hält. «Ich weiss, dass ich der Schnellste bin», hat er nach Gold in der Königsdisziplin gesagt. «Aber um das sagen zu dürfen, musste ich diesen 100er gewinnen.» Und er fügt an: «Das ist der Beginn einer Dynastie!»
Die Leichtathletik braucht einen Boost, sagt der Chef
Vielleicht ist es auch das Ende der Krise, in die der Männer-Sprint in den Jahren nach Usain Bolts (37) Rücktritt geschlittert ist. 2017 hatte sich der schnellste Mann der Geschichte von der Bahn verabschiedet. Seither klafft ein Vakuum: Wo ist der nächste Superstar? Über wen und was sprechen die, die für die grossen Sportevents den TV einschalten, auf dem Weg zur Arbeit, in der Kantine, in den sozialen Medien?
Das fragt auch Sebastian Coe, Chef des Weltverbands. «Wir befinden uns in einem Wettlauf», sagt der Brite in Budapest. «Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, und es ist ein Wettlauf, um die Fantasie junger Menschen weiterhin zu beflügeln.» Dabei gehe es nicht einmal darum, andere Sportarten auszustechen. «Es ist ein Wettlauf gegen all die äusseren Einflüsse, die ihre Zeit in Anspruch nehmen und die, offen gesagt, in einigen Fällen aufregender und relevanter für ihr Leben sind. Dieses Rennen dürfen wir nicht verlieren.» Es muss etwas passieren mit der Leichtathletik.
Das Formel-1-Rezept soll helfen
Hier kommt Lyles ins Spiel. Während Coe über neue Formate und Wettbewerbe nachdenkt, hat es sich der Amerikaner zur Aufgabe gemacht, den guten alten Sprint wieder ins Rampenlicht zu befördern. Eine Netflix-Dokumentation – mit Lyles, seinen Rivalen um Fred Kerley, 100-m-Weltmeisterin Sha’Carri Richardson und eine Reihe anderer Stars im Stil der Formel-1-Doku «Drive to Survive» – ist in Arbeit. Pünktlich zur WM erschien zudem eine NBC-Dokumentation über Lyles. «Die Leichtathletik muss sich selber besser vermarkten», sagt dieser. «Mich vermarkten, das ist einfach. Aber wir haben so viele andere, verschiedene Persönlichkeiten. Kerley und Christian Coleman, die ernste Typen sind. Die sind wie Wölfe, die auf die Bahn kommen, um zu fressen. Auch die finden ein Publikum, das sie faszinierend findet. Aber man muss sie den Leuten zeigen.»
Die Aussage zeigt: Lyles hat eine Mission. «Wenn ich es nicht mache, wer macht es dann?», fragt er.
Warum ihm das gelingen könnte? Weil er ein Mann mit vielen Facetten ist:
Das Grossmaul
Sie gehört zum Sprint, wie sie auch zum Boxen gehört: die grosse Klappe. Mit Titelverteidiger Fred Kerley lieferte sich Lyles vor dem 100er knackige Wortgefechte. Er weiss wie jeder Boxer, dessen Kampf noch nicht ausverkauft ist: Die Show ist wichtig, um die Leute ins Stadion und vor den Fernseher zu bringen. Und so kündigte er vor der WM gleich auch noch Wahnsinnszeiten wie 9,65 über 100 m an. Die er dann nicht erreichte.
Der Influencer
Lyles war letztes Jahr bei der Met Gala, an den US Open, hat Rap-Tracks aufgenommen, er hat Mode designt und ist als Model in Paris über den Laufsteg gelaufen. «Man sollte mich nicht einfach nur als Leichtathlet betrachten. Ich denke, ich muss ein Influencer sein.» Das freut auch seinen Ausrüster Adidas, der den einen oder anderen Schuh mehr verkauft, wenn Lyles das Logo mit den drei Streifen erfolgreich repräsentiert.
Der Aktivist
Lyles kann auch ernst: Als 2020 der Schwarze George Floyd von einem Polizisten getötet wird, geht auch er auf die Strasse. Mit seinem Bruder Josephus, auch er Sprinter, marschiert er in Orlando gegen Rassismus und Polizeigewalt – beide mit einem schwarzen Handschuh an der Hand. Das ist das Protest-Symbol gegen Diskriminierung, das die schwarzen US-Sprinter Tommie Smith und John Carlos bei den Olympischen Spielen 1968 berühmt machten.
Das Mobbing-Opfer
Lyles war als Kind Legastheniker, er hatte Asthma und litt unter schweren Hustenattacken. Sein Schlaf war schlecht, er ass oft kaum. In der Schule wurde er von Mitschülern gequält, an der Highschool war er «isoliert», sagt er. Schon früh litt er an psychischen Problemen. Der Sport wurde im Lauf der Zeit zu seinem Ventil. Auch später kämpfte er mit Depressionen. Das Olympia-Jahr 2021 war für ihn furchtbar, er stürzte in ein tiefes Loch. «Ich habe Antidepressiva genommen und sehr viele Therapiestunden absolviert», sagt er offen. «Ich wollte das Problem angehen.» Nach gewonnener Olympia-Bronzemedaille hielt er einen siebenminütigen Monolog über die harte Zeit – und berührte damit viele, die mit dem Sport nichts am Hut haben.
Eine komplexe Persönlichkeit, ein Mann mit Ecken und Kanten also, der etwas zu erzählen hat. Aber reicht das, um Bolt vergessen zu machen? Es gibt Tage, da geht Lyles der Vergleich auf den Keks. «Es ist nett, mit ihm verglichen zu werden», sagte er bei Athletissima in Lausanne. «Aber meine Reise ist komplett anders als seine.» Und fügt an: «In meinem Alter hatte er schon zwei Weltrekorde.»
Bolts Zeiten hat er noch nicht in Bedrängnis gebracht, vor allem über 100 m hat er noch viel Luft. Und Lyles weiss: Ein Star, der auf der Bahn nicht strahlt, verliert schnell seine Bedeutung. In Budapest hat er trotzdem Handfeste Argumente gesammelt. Mit Gold in der 4x100-m-Staffel fährt er den dritten Sieg im dritten Rennen ein. Das Sprint-Triple ist seit Bolt 2015 keinem mehr gelungen. Hier ist er also schon mal auf Augenhöhe. Der nächste grosse Test kommt in einem Jahr bei den Spielen von Paris.