Blick: Laurent Meuwly, Sie haben die holländischen Sprinter richtig schnell gemacht.
Meuwly: Es hat ein bisschen Zeit gebraucht. Wir haben die Pause während Corona sehr gut genutzt, da haben wir eine neue Dynamik ins Team gebracht. Das haben wir bei den Spielen in Tokio gesehen, als die niederländischen Leichtathleten acht Medaillen geholt haben – gleich viele wie in den 50 Jahren davor. Auch dieses Jahr sind die Ambitionen hoch. Wir wollen fünf oder sechs Medaillen.
Ihr stärkster Schützling ist Femke Bol, Dominatorin über 400 m Hürden. Wo sind ihre Grenzen?
Seit London reden wir nicht mehr über eine 51er-Zeit (in London lief Bol die 400 m Hürden in 51,45 Sekunden, die zweitschnellste Zeit der Geschichte, d. Red.), jetzt reden wir über den Weltrekord. Sie hat dieses Jahr zwischen den Meetings ein bisschen längere Pausen gehabt als sonst, weil wir am neuen Rhythmus gefeilt haben. Darum kommt sie etwas frischer an diese WM als nach Tokio oder nach Eugene. Auch wenn eine WM mit Staffel-Einsätzen und vielen Runden vielleicht nicht der beste Ort ist, um schnell zu laufen.
Der Freiburger ist seit 2019 Sprint- und Staffelnationalcoach in den Niederlanden. Einen Job, den er davor 10 Jahre lang im Schweizer Verband ebenfalls bekleidet hatte. In dieser Zeit feierte er mit Lea Sprunger unter anderem den Europameistertitel über 400 m Hürden (2018). Neben Femke Bol trainiert er derzeit eine Reihe von holländischen und internationalen Spitzenathleten, darunter auch die Schweizerin Ajla Del Ponte (27).
Der Freiburger ist seit 2019 Sprint- und Staffelnationalcoach in den Niederlanden. Einen Job, den er davor 10 Jahre lang im Schweizer Verband ebenfalls bekleidet hatte. In dieser Zeit feierte er mit Lea Sprunger unter anderem den Europameistertitel über 400 m Hürden (2018). Neben Femke Bol trainiert er derzeit eine Reihe von holländischen und internationalen Spitzenathleten, darunter auch die Schweizerin Ajla Del Ponte (27).
Halten Sie den Weltrekord für realistisch?
Ich kann nicht den Weltrekord versprechen. Aber sie kann sicher noch schneller laufen als jetzt. Eine Zeit von 51,0 oder 50,9 ist nicht unrealistisch. Unser Ziel ist, näher und näher an Sydney McLaughlin-Levrone heranzukommen. Wir sind viel näher dran als auch schon und haben noch ein Jahr Zeit bis Paris 2024. Da wollen wir bereit sein, wenn McLaughlin-Levrone über die 400 m Hürden an den Start geht. In Budapest startet sie ja nicht.
Wie erleben Sie Bol als Athletin?
Sie steht mit beiden Füssen auf dem Boden. Wenn man ihr im Training zuschaut, merkt man ihr nicht an, dass sie so eine grosse Nummer ist. Sie arbeitet sehr akribisch, sehr organisiert.
Was ist ihr grosses Talent?
Bei ihr ist es nicht etwas Körperliches wie bei McLaughlin-Levrone, sondern mental und in der Vorbereitung. Da ist sie unglaublich. Es gibt Coaches, die setzen vor allem auf physisches Talent. Aber ich mag es, mit einer Athletin wie Femke zusammenzuarbeiten. Man lernt als Trainer sehr viel.
Ist sie die grösste Athletin, die Sie je betreut haben?
Am Anfang natürlich nicht, mittlerweile schon. Wegen ihrer langen Beine und ihrer Ausdauerwerte habe ich ihr geraten, es mit 400 m Hürden zu versuchen. Ich habe von Anfang an gemerkt, wie fokussiert sie ist, in jedem einzelnen Training. Erst war sie eine durchschnittliche 400-m-Läuferin, nach wenigen Monaten gewann sie bereits U20-WM-Gold in der neuen Disziplin. So etwas habe ich noch nie erlebt. Sie nahm Schritt für Schritt. 2021 blieb sie erstmals unter 54 Sekunden, mit Olympia-Europarekord, jetzt die 51er-Zeit. Sie ist erst 23, es geht alles sehr schnell.
Wo soll das noch hinführen? Über 400 m flach ist sie ja auch schnell.
Natürlich hat sie noch viel vor sich. Sie hat Talent für andere Disziplinen. Mit spezifischem Training kann sie über 800 m 1:55 laufen. Jetzt sind wir auf Hürden fokussiert, aber in zwei, drei Jahren ist es vielleicht Zeit für eine andere Disziplin.
Das heisst, 2028 in Los Angeles versucht sie den Hattrick aus 400 m, 800 m und 400 m Hürden?
(Lacht.) Das wäre gleichzeitig wohl zu schwierig. Aber sie kann in drei Disziplinen dominant sein, davon bin ich überzeugt.
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Mit Sydney McLaughlin-Levrone ist ihre grösste Konkurrentin nicht da – auch wenn sie dieses Jahr über 400 m flach gestartet wäre. Was denken Sie darüber?
Der Absagegrund (offiziell «eine leichte Verletzung», d. Red.) entspricht sicher nicht der Wahrheit. Entweder steht es schlimmer um sie, als sie zugibt. Oder es war ziemlich schlimm und sie konnte nicht richtig trainieren und hätte nun keine Chance. Sie und ihr Trainerteam um Bobby Kersee haben viel zu viel vom Weltrekord gesprochen und merken nun: Es ist nicht so einfach.
Sie glauben also, da steckt mehr dahinter?
Ich habe den Eindruck, sie wollen nicht noch einmal ein negatives Resultat einfahren. Man trainiert jetzt schon in Richtung Paris, das ist in 12 Monaten. Wenn ihre Trainingskollegin Athing Mu jetzt auch noch nicht angetreten wäre in Budapest, hätte das einen richtig unschönen Beigeschmack gehabt. Zwei der grössten Stars nicht an der WM, das ist nicht gut für die Leichathletik.
Mit Viktoria Tkachuk haben Sie auch eine Ukrainerin in der Trainingsgruppe. Welche zusätzlichen Herausforderungen birgt das?
Sie ist für mich unglaublich. Zuletzt war sie drei Wochen in der Ukraine, um die WM vorzubereiten. Um ins Trainingslager zu reisen, musste sie mit dem Nachtzug in die Slowakei, dann mit dem Bus weiter. Während der Wettkampf-Saison kann sie nicht zurück in die Ukraine, darum muss sie dauernd nach Lösungen suchen. Das ist keine gute Ausgangslage, um sich auf eine WM vorzubereiten. Dazu kommt der Stress: Ihr Bruder ist irgendwo im Land am Kämpfen, die restliche Familie lebt ebenfalls in der Ukraine, sie verfolgt diese News jeden Tag, jede Minute.
Das muss ein enormer Stress sein.
Extrem. Und trotzdem muss sie sich auf ihren Job konzentrieren. Wenn sie nicht mit Reiserei und Krieg zu kämpfen hätte, wäre sie eine Sekunde schneller.
Wie stehen Sie als Trainer einer ukrainischen Top-Athletin zum Entscheid von World Athletics, Russen und Belarussen nicht an Wettkämpfen teilnehmen zu lassen?
Die Russen waren ja schon vor dem Krieg nicht dabei, wegen ihres Staatsdopings. Von daher sind die Russen ja nicht plötzlich verschwunden, sie waren vorher schon nicht da. Ich bin froh und stolz, dass unser Weltverband eine solch klare Position einnimmt. Denn wir wissen, dass viele Sportler in Russland mit der Politik oder dem Militär verbandelt sind. Wenn wir zum Beispiel zum Fechten schauen, sehen wir, welche Probleme der Start von Russen auf der Weltbühne bringt. Ich bin dankbar für die stabile Haltung von World Athletics.