Mujinga Kambundji über Tempo, Instinkt und Irrtümer
«Man spürt, wenn die Gegnerin näher kommt»

Die Schweizer Rekord-Sprinterin Mujinga Kambundji gibt vor ihrem WM-Start Einblicke in ihre Gedanken- und Gefühlswelt. Wohin ihr Weg in Budapest führen wird? Das ist für einmal ungewiss.
Publiziert: 20.08.2023 um 00:17 Uhr
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Aktualisiert: 28.08.2023 um 07:55 Uhr
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Mujinga Kambundji und ihr Gespür für Tempo: Die Schweizerin nimmt in einem Rennen wahr, was um sie herum passiert – obwohl sie nicht hinschaut.
Foto: AFP
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Emanuel GisiSportchef

Es ist kompliziert. Weil ihr linker Fuss seit Monaten entzündet ist, ist der WM-Start für Mujinga Kambundji (31) für einmal eine Reise ins Ungewisse. Die Frau, die in den letzten Jahren bei Grossanlässen ein Abonnement für einen Platz im Final zu haben schien, wird sich mit ihrer Jahresbestzeit von 11,05 Sekunden strecken müssen, um es unter die Top 8 über 100 m zu schaffen. Im Blick erzählt die schnellste Frau der Schweiz, worauf es bei einem Rennen ankommt, was sie davor und danach spürt, fühlt und denkt. Und warum sie so spät wie möglich langsam werden will. 

Die Tage und Stunden vor dem Rennen

«Manchmal führe ich mir das an einem Tag, an dem es um ein grosses Rennen geht, vor Augen: Angefangen habe ich einst aus Freude an der Bewegung, als Kind bestreitet man ja nicht nur eine Disziplin, sondern macht alles Mögliche. Der Sprint hat mir aber schon bald gefallen, weil ich darin besonders gut war. Ist ja logisch. Mittlerweile würde ich aber sagen, dass die Disziplin auch zu meiner Persönlichkeit passt: Ich bin Sprinterin. Wenn ich etwas mache, dann mache ich es richtig oder gar nicht, mit vollem Fokus. Das erkennt man mittlerweile in jeder Lebenslage. Ich richte mein ganzes Leben aufs Training aus, auf jede einzelne Einheit bereite ich mich sehr seriös vor. Im Moment ist das besonders kompliziert: Wegen meiner Entzündung am linken Fuss muss ich mich zum Beispiel extrem gut aufwärmen. Allein das Warm-up für ein Training dauert im Moment gut und gerne anderthalb Stunden, bis ich die Schmerzen nicht mehr spüre. Der Fuss ist auch der Grund, warum ich selber gespannt bin, wie es laufen wird. Meine Vorbereitung ist ganz anders als sonst. Im Frühjahr habe ich wegen der Schmerzen im Fuss so viel mit dem Velo trainiert, dass Florian (Clivaz, ihr Trainer und Freund, d. Red.) gemeint hat, ich bereite mich auf die Tour de France vor. Aber keine Angst, die Gefahr besteht nicht.»

Die letzten Minuten

«Im Call Room sitze ich auf engem Raum mit den anderen zusammen und warte, bis es herausgeht auf die Bahn. Bei einem Meeting in Luzern oder so ist das entspannt, man redet mit den Konkurrentinnen und macht ein Spässchen. Bei Grossanlässen ist das anders. Von aussen betrachtet wirkt das wahrscheinlich ein bisschen seltsam: Da schaut man sich nicht mehr in die Augen, da macht man sich auch keine Komplimente mehr für die schöne Frisur oder so. Da herrscht Kampfstimmung. Es ist ganz ruhig. Und dann geht es raus auf die Bahn.»

Am Start

«Jetzt spitzt sich alles zu, die Spannung schaukelt sich hoch. Das merkt man auch körperlich: Zuletzt beim Citius-Meeting in Bern wurde mir im Startblock kurz schwindlig, ich musste noch einmal aufstehen. Eine Zeit lang haben mir am Start die Hände so gekribbelt, als ob ich Ameisen drin hätte. Was auch noch lustig ist: Vor dem 200er fühle ich mich manchmal plötzlich müde. Weil der Körper sich darauf einstellt, dass er gleich eine relativ lange Distanz sprinten muss, fährt er runter. Und dann kommt der Startschuss: Jetzt geht es nur noch darum, zu reagieren. Alles, was jetzt passiert, muss organisch passieren. Wenn du nachdenkst, ist es zu spät. Es gibt kein Überlegen mehr, alles geschieht automatisch.

Nach dem Start

«Wir Sprinterinnen sind wie Formel-1-Boliden. Wir tunen unseren Körper im Training hoch, jede Körperregion wird darauf vorbereitet, über eine kurze Distanz explosiv zu laufen. Das zeigt sich direkt nach dem Start: Jeder Schritt muss sitzen. Du darfst nichts unterschätzen, du darfst dich aber auch nicht überschätzen. Du musst dein Rennen laufen, denn alles andere rächt sich am Ende. Wenn ich renne, spüre ich, was links und rechts neben mir auf der Bahn passiert. Manchmal ist es verrückt, auch auf Bahn 4 oder 5 bekomme ich irgendwie mit, was ganz aussen passiert. Dabei sehe und höre ich nicht explizit hin – das sieht man nur bei Kindern oder Usain Bolt –, aber ich nehme es wahr. Man spürt, wenn jemand nahe ist.»

Im vollen Lauf

«In einem Halbfinal, wenn man nicht Vollgas gibt, muss man wissen, wo die anderen sind. Wer ganz locker ausläuft, kann auch überspurtet werden, das sieht dann blöd aus. Ich würde sagen, je fitter ich bin, desto interessanter ist es, die Gegnerinnen vor mir zu haben. Dann geht es darum, nicht zu verkrampfen und um jeden Preis aufholen zu wollen. Was oft falsch verstanden wird: Sprinten ist nicht nur Vollgas, man muss gleichzeitig anspannen und entspannen, immer wieder. Wenn ein Muskel immer nur angespannt ist, ist man nicht schnell.»

Auf den letzten Metern

«Der Witz am Sprint ist ja: Es werden alle langsamer. Auf 100 Meter hat eine Profi-Sprinterin wie ich Energie für etwa 6 Sekunden, bis ich die Höchstgeschwindigkeit erreiche. Ab da werde ich langsamer. Die Schwierigkeit ist es, die Höchstgeschwindigkeit so lange wie möglich zu halten. Wenn jemand aufholt, dann rennt sie nicht noch einmal schneller als vorher – dann bleibt sie länger schnell als die Gegnerin. Es klingt komisch, ist aber so: Im Sprint geht es darum, wer am wenigstens schnell langsam wird.»

Im Ziel

«Ich kann normalerweise nicht sagen, ob ein Lauf schnell war oder nicht. Ich weiss, wenn es gut war, wenn ich locker und sauber gelaufen bin. Aber manchmal ist man auch schnell, wenn man verkrampft rennt. Wenn du fit bist, kannst du schlecht laufen und trotzdem eine gute Zeit haben. Und umgekehrt.»

Am Abend

«In den letzten Jahren hat es angefangen, dass ich nicht mehr schlafen kann vor und nach Wettkämpfen. Das war früher nie ein Problem, vielleicht ist das eine Alterserscheinung. Aber interessant ist: An Grossanlässen, wo ich innert weniger Tage viele Wettkämpfe bestreite, geht es. Da weiss der Körper, dass es wichtig ist, dass ich meine Ruhe bekomme. Daran wird es in Budapest also nicht liegen.»

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