Mujinga Kambundji über 2022
«Ich hatte das Jahr meines Lebens … bis jetzt!»

Der Kalender von Mujinga Kambundji (30) funktioniert anders als bei den meisten: Silvester ist bereits im Herbst. Im Blick-Interview erklärt sie, was es damit auf sich hat, wie es ist, an der Weltspitze mitzulaufen und wer die grösste Kampfsau ist.
Publiziert: 01.01.2023 um 00:57 Uhr
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Das beste Jahr ihrer Karriere: Mujinga Kambundji war 2022 kaum zu stoppen.
Foto: Urs Lindt/freshfocus
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Emanuel GisiSportchef

Blick: Mujinga Kambundji, wie verbringen Sie die Feiertage?
Kambundji: Ich mache nie Weihnachtsferien. Normalerweise mache ich am 25. Dezember frei, damit ich kein schlechtes Gewissen haben muss.

Und an Silvester?
Am 31. Dezember trainiere ich. Silvester ist mir nicht so wichtig, ich bin da recht spontan und hänge mich dort an, wo etwas läuft. Nicht unbedingt in einem Club oder in einer Bar, ich feiere eher mit Freunden daheim. Der 1. Januar ist frei, am 3. Januar gehts dann ins Trainingslager nach Teneriffa. Da sind die Bedingungen einfach gut: schönes Wetter, 25 Grad. Perfekt zum Trainieren.

So fängt Ihr Jahr also an.
Ich sage immer zu meiner Schwester Ditaji (Hürdensprinterin, d. Red.): «Unser Jahr fängt im Herbst an.» Wenn der letzte Wettkampf vorbei ist, dann ist unser Silvester. Alles, was du danach machst, ist für die neue Saison. Ich fasse am 1. Januar keine Vorsätze, sondern dann, wenn die neue Saison anfängt.

Reden wir zuerst über das alte Jahr. Sie sind zum zweiten Mal Sportlerin des Jahres geworden. Bedeutet Ihnen dieser Titel etwas?
Sehr viel sogar. So viele Titel habe ich in meiner Karriere noch nicht gewonnen (lacht). Es war ein sehr spezielles Sportjahr, andere Disziplinen hatten Olympische Spiele …

«Würde den Preis meinem Freund verleihen»
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Kambundji nach erneuter Wahl:«Würde den Preis meinem Freund verleihen»

Die Skifahrerinnen zum Beispiel …
… darum ist das etwas sehr Besonderes. Es hätten viele Frauen verdient gehabt, zu gewinnen. Ich habe als Teenager oft die Sports Awards geschaut, nie hätte ich dabei gedacht, dass ich da siegen kann. Weil ich die Wahl nicht beeinflussen kann im Gegensatz zu meinen Wettkämpfen, ist es eine umso schönere Wertschätzung.

Sie wurden Hallen-Weltmeisterin, holten Gold und Silber an der EM, stellten drei Schweizer Rekorde auf. 2022 war ein grosses Jahr für Sie.
Ich hatte das Jahr meines Lebens … (denkt nach) bis jetzt! Die Medaillen, die ich gewonnen habe, habe ich auf Weltniveau gewonnen. Seit langem sind mir sowohl über 60, 100 und 200 Meter neue Bestleistungen gelungen. Sonst war es meist eine Disziplin pro Jahr, in der ich einen Sprung gemacht habe.

Das ist Mujinga Kambundji

Mujinga Kambundji ist die schnellste Frau der Schweiz. Und sie hat ein Jahr für die Geschichtsbücher hinter sich: Die Bernerin holte sich im Juni 2022 von Ajla Del Ponte den Landesrekord über 100 m zurück (10,89 Sekunden). Dazu verbesserte sie ihren eigenen Schweizer Rekord über 200 m auf 22,05 Sekunden. Über 60 m war sie bei ihrem WM-Titel in Belgrad in der Halle 6,96 gelaufen, ebenfalls Schweizer Rekord und die viertschnellste Zeit in der Geschichte, nur vier Hundertstel hinter dem Weltrekord. An der EM 2022 in München holte sie Gold (200 m) und Silber (100 m). Bei der Europameisterschaft 2024 in Rom verteidigte sie ihren Titel über 200 m. Die zweitälteste von vier Schwestern stand 2021 über 100 und 200 m im Olympia-Final, auch eine Outdoor-WM-Medaille hat sie schon: 2019 gabs in Doha Bronze über 200 m. Im Dezember wurde sie zum zweiten Mal nach 2019 zur Schweizer Sportlerin des Jahres gewählt.

Mujinga Kambundji ist die schnellste Frau der Schweiz. Und sie hat ein Jahr für die Geschichtsbücher hinter sich: Die Bernerin holte sich im Juni 2022 von Ajla Del Ponte den Landesrekord über 100 m zurück (10,89 Sekunden). Dazu verbesserte sie ihren eigenen Schweizer Rekord über 200 m auf 22,05 Sekunden. Über 60 m war sie bei ihrem WM-Titel in Belgrad in der Halle 6,96 gelaufen, ebenfalls Schweizer Rekord und die viertschnellste Zeit in der Geschichte, nur vier Hundertstel hinter dem Weltrekord. An der EM 2022 in München holte sie Gold (200 m) und Silber (100 m). Bei der Europameisterschaft 2024 in Rom verteidigte sie ihren Titel über 200 m. Die zweitälteste von vier Schwestern stand 2021 über 100 und 200 m im Olympia-Final, auch eine Outdoor-WM-Medaille hat sie schon: 2019 gabs in Doha Bronze über 200 m. Im Dezember wurde sie zum zweiten Mal nach 2019 zur Schweizer Sportlerin des Jahres gewählt.

Wieso hat es 2022 auf ganzer Breite so gut geklappt?
Ich mache mehr richtig und weniger falsch. Wir versuchen uns jedes Jahr zu verbessern. Das versucht man ja immer, aber es kommt nicht sofort. Ich hatte 2021 nicht das Gefühl, dass ich mein Potenzial komplett ausschöpfen kann. Es hat immer noch ein bisschen gefehlt.

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«Eine Schwangerschaft ist nicht mehr das Karriereende»
Mujinga Kambundji
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Wie ist das, wenn man merkt: Hoppla, jetzt geht es ab?
Die Super-Saison in der Halle war gut für mich. Sie hat früh bestätigt, dass meine Entscheide richtig waren. Auf der anderen Seite sorgt es auch für Druck. Ich wusste, ich bin extrem gut in Form. Aber nur weil man es in sich hat, heisst es nicht, dass man es sicher auf die Bahn bringt.

Wie schwierig ist es, die gute Form umzusetzen?
Schwieriger, als man denkt. Sprinten ist mehr als geradeaus rennen. Man kann ganz viel falsch machen. Da hilft Erfahrung und dass man seinen Körper kennt.

Der Sprint der Frauen ist im Moment eine der spektakulärsten Disziplinen in der Welt-Leichtathletik. In welcher Rolle sehen Sie sich da?
Ich steche ja nun nicht mit spektakulärer Frisur oder mit Tattoos oder mit meinem Auftreten heraus. Ich bin eine von denen, die konstant dabei sind. Ich bin jedes Jahr ein bisschen weiter nach vorne gekommen.

Wie sehen Sie die Konkurrentinnen?
Das Niveau wird immer höher, und wir haben viele interessante Persönlichkeiten. Man muss heute schneller denn je sein, um in einen Final zu kommen. Ich finde das extrem spannend, aber es ist ja auch mein Sport.

Wen finden Sie denn interessant?
Allyson Felix (US-Sprinterin, d. Red.). Weil sie eine enorme Konstanz auf hohem Level hatte, immer dabei war. Ich habe sie schon als Jugendliche bewundert, sie war für mich sehr speziell. Auch, als sie dann auf die 400-Meter-Distanz gewechselt hat. Und dann ist da auch Shelly-Ann Fraser-Pryce …

… die Jamaikanerin. Was fasziniert Sie an ihr?
Sie ist beeindruckend. Nicht unbedingt wegen ihrer bunten Haare (lacht laut). Das finden andere spannender. Aber dass sie mit Mitte dreissig persönliche Bestzeit läuft. Dieses Jahr ist sie mit 35 konstanter denn je gelaufen. Sie zeigt allen, dass du bis 35 ohne Probleme vorne dabei sein kannst.

Felix und Fraser-Pryce sind beide Mütter geworden und haben danach wieder Höchstleistungen gebracht.
Ja, das ist faszinierend.

Bewegt Sie das?
Ich rede mit anderen regelmässig darüber. Es gibt ja noch mehr Beispiele: Hürdensprinterin Nia Ali, die gerade erst ein Kind bekommen hat, zum Beispiel. Sie bestreitet schon wieder Wettkämpfe. Sobald du Freundinnen und Schwestern in deinem Umfeld hast, die Kinder haben, wird dir noch einmal klarer, was so eine Schwangerschaft mit dem Körper macht. Da kannst du noch einmal stärker nachvollziehen, wie gross die Leistung ist, nach der Schwangerschaft wieder auf Weltniveau zu kommen. Und ich habe das Gefühl, dass das auch Frauen abseits des Sports so wahrnehmen und sich davon inspirieren lassen.

Wie verändert das eine Karriereplanung?
Es ist selbstverständlich geworden, dass eine Schwangerschaft nicht mehr das Karriereende ist. Wenn eine Athletin mir erzählt, dass sie schwanger ist, gehe ich nicht mehr davon aus, dass die Karriere vorbei ist. Das war früher anders, zumindest in der Leichtathletik gab es kaum andere Beispiele. Es ist sehr schön zu sehen, dass das auch ausserhalb des Sports wahrgenommen wird.

Allyson Felix hatte in dieser Sache eine Vorreiterrolle.
Dank Allyson ist es so, wie es jetzt ist (Felix kämpfte erfolgreich gegen eine Vertragsklausel mit ihrem Sponsor Nike, der eine Schwangerschaft wie eine Verletzung behandelte, was finanzielle Einbussen zur Folge hatte, d. Red.). Ihr haben wir zu verdanken, dass du heute als Frau nicht mehr finanziell bestraft wirst, sondern trotzdem weitermachen kannst. Und das schöne ist ja, dass Felix auch bewiesen hat, dass man danach stark zurückkommen kann. Wir müssen ihr dankbar sein, dass sie diese Wand für uns durchbrochen hat.

Haben Sie ihr das mal gesagt?
Nein, noch nie. Aber wenn ich sie noch einmal treffe, mache ich das.

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«Ich schaue nicht mehr von unten wie noch vor einigen Jahren»
Mujinga Kambundji
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Felix hat im Sommer aufgehört, Fraser-Pryce ist immer noch dabei, andere wie Elaine Thompson-Herah oder Shericka Jackson geben im Moment den Ton an. Wo stehen Sie?
Ich werde mehr als Konkurrentin gesehen, das hat sich 2022 noch einmal akzentuiert. Die Top-Leute haben letzten Winter schon in der Halle gesehen, dass ich besser werde. Ich werde von ihnen so wahrgenommen, wie ich sie wahrnehme.

Wie muss man sich das vorstellen?
Wenn du zur Konkurrenz gehörst, dann passiert vor dem Wettkampf kein grosser Austausch mehr. Es gibt ein Kopfnicken, mehr nicht. Nach dem Motto: «Ich habe dich wahrgenommen». Aber ich bin auch so. Ich will sie auch schlagen, schaue nicht mehr von unten wie vor sechs, sieben Jahren.

Und nach dem Wettkampf?
Danach ist man mehr als nur Konkurrentinnen. Wir sind jetzt nicht beste Freundinnen. Aber gerade zu den Europäerinnen habe ich einen sehr guten Draht. Mit der Britin Daryll Neita ist es so: Vor dem Wettkampf ist es voll das Konkurrenzding, danach reden wir viel, tauschen uns aus. Oder mit Shelly-Ann.

Wie ist Fraser-Pryce so drauf?
Sie ist eine sehr offene, herzliche Person. Da redet man über das, was sich gerade ergibt. Letztes Jahr hatte ihr Sohn gerade Schulanfang, da ging es darum, dass und wie sie bald nach Hause fliegen möchte.

Gibt man sich gegenseitig Tipps?
Shelly-Ann hat mir noch nie einen gegeben. Ich habe sie aber auch noch nie nach einem gefragt. Marie-Josée Ta Lou ist sehr herzlich, mit ihr rede ich auch viel. Aber Tipps … Es ist eher ein Austauschen, ein Bestätigen, «ach, bei mir ist das auch so», oder «ich versuche manchmal das und das».

Welche Sportler haben Sie 2022 beeindruckt?
Meine Schwester Ditaji. Es macht extrem Spass zu sehen, wie sie sich entwickelt, wie ihre Einstellung sich verändert. Sie wird immer professioneller, will immer mehr. Was sie dieses Jahr geleistet hat, ist sehr beeindruckend. An der EM hatte sie niemand auf dem Radar für eine Medaille.

Hier läuft Ditaji Kambundji sensationell zu EM-Bronze
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Über 100 Meter Hürden:Hier läuft Ditaji Kambundji sensationell zu EM-Bronze

Und dann holte sie Bronze über 100 Meter Hürden.
Ich hatte eine Riesenfreude, dass sie auspacken konnte, wenn es zählt. Es war toll, im Stadion dabei zu sein, wie sie alle und sich selber überrascht hat. Was für ein Rennen! Und was für eine Kampfsau, wie sie sich ins Ziel geworfen und auf den letzten Metern den dritten Platz geholt hat!

Was bringt 2023 für Sie?
Ich will schneller werden. Ich will irgendwann sagen können, dass es besser nicht mehr geht. Und natürlich freue ich mich auf die WM in Ungarn. Da gibt es vielleicht eine Chance auf Medaillen.

Die hell glänzenden Medaillen sollen ja als Mädchen einst Ihre ursprüngliche Motivation gewesen sein.
(Lacht.) Das ist immer noch so. Natürlich hat eine schnelle Zeit einen sehr grossen Reiz. Aber wer eine Medaille holt bei Meisterschaften … Das nimmt einem niemand mehr.

Wie viele Zehntel schneller können Sie noch laufen?
Ich will immer unter irgendetwas kommen. 2022 war es unter 10,90 über 100 Meter. Eine Schöne Zahl wäre also unter 10,80. Aber ich will mich nicht zu sehr auf eine Zeit versteifen. Wenn ich ein gutes Rennen mache, kann man nicht abschätzen, was möglich ist. Ich bin ein Wettkampftyp, kann immer noch einen draufsetzen.

Also können wir sagen: Mujinga Kambundji will 10,79 laufen?
Das nächste Ziel ist 10,80. Wenn mein Körper dann 10,81 macht und das meine absolute Limite ist, dann will ich nicht enttäuscht sein.

Welche Schlagzeile möchten Sie in einem Jahr über Ihr 2023 lesen können?
Puh, das ist schwierig. Etwas im Stile von: «Sie wird immer besser.» Ich merke jedes Jahr, dass ich noch mehr Potenzial habe, dass ich noch schneller laufen kann. Die Frage, die sich mir stellt, ist immer: Wo sind meine Limiten? Wie viele Medaillen kann ich noch holen? Ich habe mir ein paar Mal in den letzten Jahren gedacht: Das war okay von mir, aber es geht noch mehr. Ich will mir beweisen, dass ich jedes Jahr noch besser werden kann.

Die routinierte Tschechin Ivet Lalova hat Ihnen im Sommer gesagt, als Sie 30 wurden: «Jetzt kommt die beste Zeit.» Hat sie recht?
Bis jetzt schon. Ich weiss nicht, ob es so weitergeht. Aber bis jetzt ist es toll.

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