Jason Joseph (24) ist am Ende richtig angefressen. «Das ist nicht das Ziel», sagt er nach dem Final über 110 m Hürden. «Ich will aufs Podest, nicht auf den 7. Platz!» Das sagt einer, der gerade auf der grossen Bühne in die Weltspitze gelaufen ist. Wobei man wohl eher sagen muss: gestolpert. Nach mässigem Start in den Halbfinal kämpft er sich wieder zurück auf Augenhöhe mit den Kontrahenten – und gerät kurz vor der Ziellinie noch aus dem Tritt. Trotzdem reicht es ihm für den Final an der WM in Budapest – da hat also einer noch mächtig Marge!
Der wird doch im Final nicht …? Tut er nicht. Leider, aus Schweizer Perspektive. Im Final legt der 1,92-m-Riese zwar einen Blitzstart hin, der Jamaikaner Hansle Parchment neben ihm verschwindet im Rückspiegel, das sieht vielversprechend aus – doch dann hängt Joseph an der fünften Hürde an. «Dann wars vorbei. Wenn man ab Hürde vier den Kopf nicht beieinander hat …», hadert er.
Nach dem Stolperer im Halbfinal strauchelt er nun also auch im Final. Gold geht an den US-Amerikaner Grant Holloway vor Parchment und Daniel Roberts (USA).
Mit diesem Lauf in die Weltspitze – das muss man erst einmal schaffen
Sein Ärger darf nicht darüber hinwegtäuschen: Joseph ist dabei, das einzulösen, was er und all jene, die ihn seit Jahren eng verfolgen, von ihm erwarten. Seit dem Frühjahr hat er Edelmetall bei einem Elite-Grossanlass auf seinem Konto. Zwar mag es «nur» die Indoor-EM gewesen sein – aber für Joseph war es ein Wink, dass das, was er im Moment tut, funktioniert. Im vergangenen Herbst war er nach zwei Jahren in einer prominenten US-Trainingsgruppe ganz nach Basel zurückgekehrt, zu Claudine Müller, einer Trainerin, die Job, Familie und Trainingsarbeit auf bewundernswerte Weise jongliert. Und die, das wird an diesem Abend in Budapest besonders klar, mit Joseph bemerkenswerte Arbeit leistet.
Dass am Ende im Final Platz 7 steht, ist für Joseph bitter, aber er weiss: Da geht in den nächsten Jahren noch was. Denn mit solchen Schnitzern in den Läufen schnell sein – das muss man auch erst einmal schaffen.
Ob er mit etwas Distanz stolz sein wird auf das Erreichte? «Für die breite Masse ist es okay. Aber ich trainiere nicht achtmal pro Woche, um okay zu sein. Es gibt so viele Leute, die zuschauen, mit mir mitfiebern – ich will der Schweiz endlich die Medaille schenken.»
Kambundjis fehlendes Prozent
Eine Runde früher scheitert am Montagabend Rekord-Sprinterin Mujinga Kambundji (31). Die Bernerin hatte eine schwierige Vorbereitung, der linke Fuss ist seit Monaten entzündet, darum konnte sie lange nur reduziert trainieren. «Ich bin bei 99 Prozent», hatte sie am Vorabend vor dem Final- und Halbfinal-Tag auf die Frage nach ihrer Verfassung gesagt. «Aber ein Prozent kann halt viel ausmachen.»
Es ist ziemlich genau dieses eine Prozent, das ihr fehlt, um unter 11 Sekunden zu laufen. Mit 11,04 stellt sie im Halbfinal zwar eine Saisonbestleistung auf, drei Hundertstel fehlen ihr aber zur Finalqualifikation. Seit langem verpasst sie also bei grossen Meisterschaften wieder einmal den Gold-Lauf. Danach ist sie denn auch hin- und hergerissen zwischen Enttäuschung und Zufriedenheit. Denn sie weiss tief drinnen selber auch: Nach dieser Seuchensaison überhaupt so schnell zu laufen – das kann nur eine Ausnahmeathletin. «Wenn man mir dieses Ergebnis vor vier Wochen angeboten hätte, hätte ich sofort zugeschlagen», sagt sie. «Doch jetzt habe ich das Gefühl, es wäre noch schneller gegangen.»
Wie Joseph hat auch Kambundji dieses Jahr schon einen Hallen-Titel gewonnen (EM-Gold über 60 m). Das gilt es in Erinnerung zu behalten, wenn man darüber sinniert, dass die Bernerin langsam in Richtung Karriereende einbiegen könnte. Mit dem Kampfgeist, den sie in diesem Sommer bewiesen hat, gibt es keinen Zweifel: Sie bremst auch als Ü30-Athletin noch nicht ab.