Das Potenzial für eine herausragende EM war schon vor dem ersten Startschuss in Rom klar und deutlich vorhanden. Doch nun verblüfft die Bilanz selbst Optimisten: Die Rekorddelegation von 60 Athletinnen und Athleten bringt eine Rekordausbeute nach Hause. Neun Schweizer Medaillen, davon vier goldene. Eine Hammer-Quote. Der bisherige Medaillenrekord von München 2022 mit sechs Stück ist pulverisiert.
Die Schweiz belegt im Medaillenspiegel von Rom den starken fünften Rang und liegt damit, zum Beispiel, deutlich vor der Sport-Grossmacht Deutschland.
Und – für die Bosse um Swiss-Athletics-Leistungssportchef Philipp Bandi die wichtigere Tabelle – im sogenannten Placing-Ranking schliesst die Schweiz auf Rang 7 ab. Vor Nationen wie Belgien, Polen, sogar Norwegen und Tschechien. Dieses Ranking berücksichtigt alle Finalplatzierungen, also die Ränge 1 bis 8 in allen 49 EM-Disziplinen. 18-mal läuft, springt oder wirft eine Schweizerin oder ein Schweizer im EM-Final mit.
Nur zwei Leichtathletik-Olympiamedaillen in der Neuzeit
Das zeigt, wie enorm breit die Schweizer Leichtathletik mittlerweile aufgestellt ist. Auch wenn man natürlich, in Einzelsportarten logisch, nach wie vor von einzelnen Ausnahmetalenten wie Mujinga Kambundji oder neu auch Dominic Lobalu profitiert.
Die goldenen Tage von Rom wecken nun noch mehr die Lust auf die Olympischen Spiele in Paris. Die erste Olympia-Medaille für die Leichtathletik seit 36 Jahren ist so nah wie nie. Bis 1952 gabs sechs Schweizer Medaillen, vier davon im Gehen. In der Olympia-Neuzeit nur noch zwei: 1984 durch Markus Ryffel und 1988 durch Werner Günthör.
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Natürlich ist das Weltniveau nochmals eine andere Hausnummer. Doch Angelica Moser und Ditaji Kambundji holen ihre EM-Medaillen mit Höhen respektive Zeiten, die weltweit stark sind.
Zum Schweizer Erfolgsgeheimnis gehört, dass der Verband nicht wie in anderen Ländern oder in anderen Sportarten die Allmacht und alles unter seiner Kontrolle hat. Swiss Athletics funktioniert als eine Art Dachorganisation, die sich nicht zu sehr in die Belange der Athletinnen und Athleten einmischt, sondern sie individuell unterstützt. Ditaji Kambundji will ihr Sprinttraining mit der Schwester bei Florian Clivaz und das Hürdentraining in Basel bei Claudine Müller machen? Na klar, sicher doch.
Stab-Europameisterin Moser will sich mit Adrian Rothenbühler, der gar kein Stab-Trainer ist, das für sie perfekte Umfeld schaffen? Der Verband unterstützt die Idee. Simon Ehammer und Annik Kälin wollen mal Mehrkampf machen, mal Weitsprung machen, oder mal beides? Sie sollen selber entscheiden.
Der Verband profilierte sich mit dem Fall Lobalu
Oder das Beispiel Dominic Lobalu. Der Vollwaise findet nach einem unfassbaren Lebensweg in der Ostschweiz eine Heimat und mit Markus Hagmann einen Trainer und Vertrauensmann. Eine Lösung, die man genauso laufen lässt.
Lobalu ist aber auch das Beispiel, dass Swiss Athletics auf die Hinterbeine steht, wenns sein muss. Während Jahren bearbeitete man den Weltverband, dass der Ex-Flüchtling trotz fehlendem Pass die Starterlaubnis bekommt. Man liess sich von einem ersten Vorschlag nicht abwimmeln und erstritt das frühzeitige Ende von Lobalus Wartefrist.
Dass World-Athletics-Boss Sebastian Coe in Rom als VIP mitten am heissen Samstagnachmittag am Fan-Event von Swiss Athletics auftaucht und andere Einladungen sausen lässt, zeigt auch, dass die kleine Schweiz international ein Player geworden ist.
Ein weiterer, mittlerweile längst bekannter Erfolgsfaktor ist auch eine Grossbank. Der UBS Kids Cup, eine Art Nachwuchs-Scouting-Gefäss, brummt wie eh und je seit der Lancierung 2011 im Hinblick auf die Heim-EM 2014. Es ist keine Überraschung, dass auch der Genfer 200-Meter-Sensations-Europameister Timothé Mumenthaler die Leichtathletik im UBS Kids Cup für sich entdeckte. Das Konzept wird mittlerweile sogar international kopiert. Mehr Ritterschlag geht eigentlich nicht.