Auf einen Blick
- Häftling im Kanton Neuenburg will chemische Kastration. Gericht muss über seltenen Fall entscheiden
- Experten warnen: Kastration löst nicht alle Probleme, Verlangen bleibt bestehen
- Haftstrafe seit 14 Jahren abgesessen, seither stationäre Massnahmen
Es ist ein äusserst seltener Fall, mit dem sich das Kantonsgericht Neuenburg am Montag beschäftigte. Die drei Richter mussten über den Wunsch eines Häftlings nach chemischer Kastration entscheiden, wie «Arcinfo» am Mittwoch berichtete.
Der Mann (56) war wegen mehrerer Vergewaltigungen seit 35 Jahren nicht mehr in Freiheit. Seine Haftstrafe hat er bereits seit 14 Jahren abgesessen. Anschliessend wurde die stationäre therapeutische Massnahme immer wieder verlängert.
«Mein letzter Rückfall war 1994»
Im Frühjahr hat das Kriminalgericht in Boudry NE diese Massnahme erneut um drei Jahre verlängert. Der Häftling gilt nach wie vor als gefährlich für die Gesellschaft. Nach Ansicht von Fachleuten leidet er an einer narzisstisch geprägten Persönlichkeitsstörung mit psychopathischer Komponente und sexuellem Sadismus, schreibt die Zeitung. Das Rückfallrisiko wird je nach Gutachten als «mässig bis hoch» oder «hoch» eingestuft.
Nun hat er eine unwiderrufliche Entscheidung getroffen: Er will sich einer chemischen Kastration unterziehen. «In meinem Alter ist die Sexualität nicht mehr so wichtig wie mit 20 Jahren. Mein letzter Rückfall war 1994. Ich habe nicht mehr die gleichen Vorstellungen, Bedürfnisse und Fantasien», argumentiert er vor Gericht. Zudem verspricht er, dass er alle kommenden Therapien weiter befolgen wolle.
«Die Kastration löst nicht alle Probleme»
Es gibt verschiedene Arten, eine chemische Kastration durchzuführen. Im Fall des Neuenburger Häftlings würde ihm vierteljährlich eine Injektion mit Antiandrogenen verabreicht werden, die die Testosteronproduktion hemmen – und das über mehrere Jahre oder sogar lebenslang.
«Die chemische Kastration verringert den Testosteronspiegel. Das kann zu Impotenz führen. Aber das Testosteron kann wieder ansteigen, wenn die Behandlung nicht mehr durchgeführt wird», erläutert Psychiater Dominique Marcot laut «Arcinfo» vor Gericht. Sein Kollege, der Freiburger Psychiater Rigobert Kamdem, der bereits neun Gutachten über den Vergewaltiger erstellt hat, gibt zu bedenken: «Die Kastration löst nicht alle Probleme. Das Verlangen bleibt bestehen, auch wenn es den Akt unmöglich macht.» Oder wie es die Psychologin Monika Egli-Alge im Blick beschrieb: «Die Kastration wirkt nicht zwischen den Ohren, sondern zwischen den Beinen.»
Überschätzt sich der Straftäter?
Auch der Leiter der Neuenburger Behörde für Strafvollzug und Bewährungshilfe (OESP), Alain Barbezat, ist vom Plan des Häftlings nicht begeistert. Seiner Meinung nach «ist seine Fähigkeit, rückfällig zu werden, nicht wirklich beeinträchtigt. Er überschätzt seine Anpassungsfähigkeit».
Die Experten empfehlen, den Straftäter – wenn überhaupt – erst sechs bis zwölf Monate nach Beginn der Therapie in eine offene Einrichtung zu entlassen. Es brauche Zeit, um festzustellen, ob die Behandlung die erhoffte Wirkung entfalte.
Es ist eine heikle Entscheidung, die die Richter in dem Fall treffen müssen. Sie sehen sich noch nicht in der Lage, einen klaren Beschluss zu fassen. Das Gericht hat sich eine Bedenkzeit gegeben, bevor es ein Urteil fällt.