Justiz-Experte kritisiert Churer Gerichtsurteil gegen Ex-Richter
«Man kann nicht ‹ein bisschen› vergewaltigen»

Ein Mann wird wegen Vergewaltigung verurteilt – doch er bleibt auf freiem Fuss. Justizexperte Benjamin F. Brägger kritisiert das Urteil und erklärt, was sich im Schweizer Rechtssystem ändern müsste, damit alle Vergewaltiger ins Gefängnis kommen.
Publiziert: 10:17 Uhr
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Aktualisiert: vor 15 Minuten
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Am Dienstag musste ein Ex-Richter beim bündnerischen Regionalgericht Plessur antraben.
Foto: Sandro Zulian

Auf einen Blick

  • Ex-Richter wegen Vergewaltigung verurteilt, bleibt aber auf freiem Fuss
  • Rechtsexperte kritisiert mildes Urteil und fordert höhere Mindeststrafen
  • 78 Prozent der Schweizer befürworten härtere Strafen für Vergewaltiger
  • Aber: Politik passt den Strafrahmen nicht an
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Robin BäniRedaktor

Ein ehemaliger Richter aus Chur GR stand diese Woche vor Gericht. Der Vorwurf: Er soll eine Praktikantin vor drei Jahren in seinem Büro vergewaltigt haben. Am Dienstag hat das bündnerische Regionalgericht Plessur sein Verdikt gefällt – und den Mann schuldig gesprochen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, doch es hat bereits schweizweit für Unverständnis gesorgt – denn der Verurteilte bleibt vorerst ein freier Mann. 

«Seine Aussagen konnten die Vorwürfe nicht entkräften»
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Selbst Rechtsexperten kritisieren das Urteil deutlich. «Wenn nicht einmal ein Vergewaltiger ins Gefängnis muss – wer dann?», sagt Benjamin F. Brägger (57), Jurist und Verfasser eines Standardwerks über den Schweizer Strafvollzug. Was Brägger besonders irritiert: Der Ex-Richter erhielt eine Freiheitsstrafe von 23 Monaten – allerdings bedingt, weshalb er nicht hinter Gitter muss. Hätte der Mann nur zwei Monate mehr bekommen, müsste er die Strafe absitzen. Denn bedingte Freiheitsstrafen sind nur bis und mit 24 Monate erlaubt.

«Es wirkt, als hätte das Gericht alles darangesetzt, einen Vollzug der Haftstrafe zu vermeiden», sagt Brägger. Wie das Gericht zu seinem Strafmass gelangt ist, bleibt noch unklar, da die schriftliche Begründung aussteht.

Jeder dritte Vergewaltiger entkommt dem Gefängnis

Fälle wie dieser sind in der Schweiz keine Seltenheit. Jeder dritte Vergewaltiger muss laut Bundesamt für Statistik nicht ins Gefängnis, obwohl das Gesetz Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren vorsieht. Die Gerichte schöpfen den Strafrahmen häufig nur zu einem kleinen Teil aus. Vor allem Personen ohne Vorstrafen, so wie der Churer Ex-Richter, entgehen oft einer Haftstrafe. 

Die Gerichte argumentieren, ein Haftvollzug sei in solchen Fällen meist nicht notwendig, um weitere Delikte zu verhindern. Doch es gibt auch praktische Gründe: Ein Gefängnisaufenthalt kostet den Staat viel Geld, und überfüllte Gefängnisse wollen die Behörden vermeiden. 

Justizexperte Brägger teilt die Ansicht, dass nicht jede Straftat eine Gefängnisstrafe rechtfertigt. «Aber man kann nicht ‹ein bisschen› vergewaltigen, das ist kein fahrlässiges Delikt.» Vergewaltigung sei immer eine schwere Straftat, vergleichbar mit einem Tötungsdelikt. Die Opfer seien traumatisiert, oft ein Leben lang. Doch: «Bleibt ein Vergewaltiger auf freiem Fuss, signalisieren die Gerichte, eine Vergewaltigung sei gar nicht so schlimm.»

Der Rechtsexperte fordert deshalb eine Mindeststrafe von vier Jahren für Vergewaltigungen. «Das würde sicherstellen, dass alle Täter ins Gefängnis müssen.» Alternativ könnte die Mindeststrafe auf drei Jahre angehoben werden, doch dann wären weiterhin teilbedingte Strafen möglich. Täter könnten in solchen Fällen oft mit einer Fussfessel davonkommen – und erneut die Haft umgehen. 

Härtere Strafen für Vergewaltiger, ja oder nein?

Ob es zu härteren Strafen kommt, liegt letztlich in den Händen der Politik. Bisher scheiterten zahlreiche Vorstösse, die Mindeststrafen zu erhöhen. Auch bei der jüngsten Reform des Sexualstrafrechts blieben die Strafrahmen unangetastet. Dabei zeigt eine aktuelle Umfrage, dass 78 Prozent der Schweizer Bevölkerung härtere Strafen für Vergewaltiger befürworten.

Das neue Sexualstrafrecht ist seit Juli 2024 in Kraft. Es sieht vor, dass eine Vergewaltigung bereits dann vorliegt, wenn das Opfer mit Worten oder Gesten zeigt, dass es nicht einwilligt. Auch ein Schockzustand kann als Ablehnung gewertet werden. Das Parlament erhofft sich dadurch, dass mehr sexuelle Übergriffe angezeigt werden. Doch Brägger bleibt skeptisch: «Mehr Anzeigen sind möglich, aber an den Urteilen wird sich wenig ändern.» Täter können weiterhin ohne Gefängnisaufenthalt davonkommen. 

Einem Autoraser, der niemanden verletzt, droht eine Freiheitsstrafe von bis zu vier Jahren. Das sei richtig, findet Brägger, und das Parlament habe diese Regel eingeführt, um ein Signal zu senden, da es viele Tote wegen Rasern gegeben habe. Nun stelle sich erneut die Frage, welches Zeichen man bei Vergewaltigungen setzen wolle.

Vergangene Woche kündigte die Rechtskommission des Nationalrats an, die Regeln zu Gewalt gegen Frauen zu überprüfen und «allenfalls zu konkretisieren». Härtere Strafen für Vergewaltiger, ja oder nein? Die Debatte bleibt ein politischer Dauerbrenner.

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