Er ist ein Vergewaltiger – aber muss nicht hinter Gitter. Das Urteil, das die Richter vom Regionalgericht Plessur GR gegen ihren ehemaligen Arbeitskollegen Manuele G.* gefällt haben, hinterlässt Fragezeichen. Der Angeklagte kassiert für die Vergewaltigung einer Praktikantin eine Haftstrafe von einem Jahr und elf Monaten. Bedingt, unter anderem weil der verurteilte Ex-Richter keine Vorstrafen hat. Heisst: Er marschiert als freier Mann aus dem Gerichtssaal.
«Wie ist es möglich, dass ein verurteilter Vergewaltiger nicht ins Gefängnis muss? Das ist lächerlich», ist nur eine Leser-Reaktion von vielen, die bei Blick eingegangen sind. Auch bei manchem Rechtsexperten bleibt das Gefühl, dass dieses Strafmass butterweich ist. Vergewaltiger, aber auf freiem Fuss: Das Schweizer Gesetz macht es möglich. Wie kann das sein?
Knapp am Gefängnis vorbeigeschrammt
Grundsätzlich sind Freiheitsstrafen auf Probe bis 24 Monate erlaubt. Ab zwei Jahren muss der Täter zwingend einen Teil der Strafe absitzen. Der Ex-Richter erhält vom Gericht auf den Punkt genau 23 Monate und damit einen Monat weniger.
Eine genaue Begründung mag das Regionalgericht zum schriftlich bekanntgegebenen Urteil nicht nachreichen: Man «erteilt keine weiteren Auskünfte».
Auch statistisch gesehen reiht sich dieser Vergewaltigungsfall nur unbequem in die Liste der schweizweit 582 Fälle ein, die zwischen 2018 und 2023 verhandelt – und abgeurteilt – wurden. Der Ex-Richter gehört gemäss Bundesamt für Statistik nun zu den 17 Prozent, die eine Vergewaltigung begangen haben, verurteilt wurden, aber auf Bewährung draussen bleiben dürfen.
Offen bleibt, ob das Opfer mit dem Urteil zufrieden ist oder an die nächste Instanz geht. Die ehemalige Praktikantin hat nach der Tat enorme Kraft bewiesen. Und ist kurze Zeit nach dem Vorfall im Büro ins Spital gegangen und hat sich untersuchen lassen. «Beweise sichern», nannte ihr Freund das vor Gericht.
Sie hat Stunden über Stunden an Befragungen von der Polizei und Staatsanwaltschaft über sich ergehen lassen und schilderte auch im Gerichtssaal den Tatabend und andere Vorkommnisse. Aber: In der Medienmitteilung des Gerichts steht vom geforderten Schadenersatz der jungen Frau nichts.
«Richter wird zum kritisierten Satz keine Stellung nehmen»
Vom Gericht wurde das Opfer nicht gerade zimperlich angefasst. «Sie sind ja nicht unkräftig gebaut», sagte einer der Richter am ersten Prozesstag zu der Praktikantin. «Hätten Sie die Beine nicht besser zusammenpressen müssen?» Die Frage sorgte für empörte Reaktionen.
Knapp eine Woche darauf forderten Juristen den Rücktritt des Laienrichters. Einer der Wortführer in dieser Debatte ist der Churer Ex-Anwalt und Gemeinderat Jean-Pierre Menge (70). Zum Urteil sagt er gegenüber Blick: «Ich hätte sechs Monate unbedingt für angebracht erachtet, bin aber befriedigt über den Ausgang des Verfahrens und dass man dem Opfer geglaubt hat.» Eine Anfrage an den kritisierten Richter wird vom Mediensprecher der Bündner Gerichte stellvertretend beantwortet: «Der Richter wird auch nach der Publikation des Urteils zum kritisierten Satz keine Stellung nehmen. Besten Dank für Ihr Verständnis.»
«Werden Berufung anmelden»
Verständnis hat die Anwältin des verurteilten Richters nicht. Sie sagt zu Blick: «Wir sind enttäuscht und schockiert über das Urteil.» Sie hätten ausführlich dargelegt, dass es erhebliche Zweifel am Sachverhalt der Anklage gebe. «Wir werden Berufung anmelden, damit wir Begründung einsehen können. Dann prüfen wir das Urteil eingehend.» Falls die «Kraft und Energie» reicht, überlegt sich die Verteidigung einen Weiterzug. Die Anwältin des Opfers reagierte nicht auf eine Blick-Anfrage.
Solange das Verfahren nicht rechtskräftig abgeschlossen ist, gilt die Unschuldsvermutung.
*Name geändert