Behandlung von Sexualstraftätern
Wer Kastration fordert, denkt zu kurz

Die chemische Kastration von Sexualstraftätern ist in der Schweiz erlaubt. Obwohl gesellschaftlich erwünscht, kommt sie nur ganz selten zur Anwendung. Das hat gute Gründe.
Publiziert: 16.05.2019 um 11:36 Uhr
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Problematische Fantasien und Präferenzen bleiben trotz Therapie und chemischer Kastration bestehen.
Foto: iStock
Judith Hochstrasser @higgsmag

Die sollte man alle kastrieren! Mit solch markigen Worten drückt manch einer den Wunsch aus, wie man mit pädosexuellen Straftätern und Vergewaltigern umgehen sollte. Was auf den ersten Blick logisch scheint – nämlich Männer, die durch das Ausleben ihrer Sexualtriebe andere Menschen verletzen oder töten, eben dieser hormonell gesteuerten Triebe zu berauben – ist auf den zweiten Blick nicht so einfach.

Kein rein physisches Problem

«Wenn wir Kastration im Giesskannenprinzip bei allen Sexualstraftätern anwenden, handeln wir uns Probleme ein. Denn gewisse Personen macht dies gerade noch aggressiver», warnt etwa Soziologe Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der ZHAW. «Es ist schlicht ein Irrglaube, dass hinter sexuellen Gewalttaten nur hormonelle Probleme stecken. Nein, dazu gehören zwanzig, dreissig Jahre voller Geschichten, die dazu geführt haben, dass diese Menschen auf Kinder stehen. Oder besonders aggressive Sexualpraktiken mögen. Es ist fast schon absurd zu meinen, das Problem sei allein physisch zu lösen.»

In der Schweiz ist die sogenannte chemische Kastration von Sexualstraftätern gesetzlich erlaubt. Dabei nimmt der Mann ein Mittel, das die Produktion von Sexualhormonen unterdrückt oder deren Wirkung senkt. Laut Artikel 434 des Zivilgesetzbuchs wäre es hierzulande theoretisch sogar möglich, Straftäter dazu zu zwingen. «Das kommt nicht zur Anwendung», sagt aber Baier. Die chemische Kastration wird zwar durchgeführt, allerdings nur bei Männern, die willens sind, sich mit ihren Taten auseinanderzusetzen, und die selbst diese Behandlung wünschen.

Auch die freiwillige Einnahme der Mittel für die chemische Kastration ist äusserst selten. Gemäss Jérôme Endrass vom Zürcher Amt für Justizvollzug bewegt sich die Anzahl Inhaftierter, die einer solchen Behandlung unterzogen werden, in seinem Kanton derzeit im einstelligen Bereich. In anderen Kantonen sieht es ähnlich aus: So nimmt im Kanton Bern auch nur eine Anzahl Inhaftierter im einstelligen Bereich solche Medikamente zu sich, und im Aargau gibt es keine solchen Fälle.

Astreine Motivation verlangt

Psychologin Monika Egli-Alge therapiert seit Jahrzehnten pädosexuelle Straftäter und nicht straffällige Pädophile. Auch sie geht von ein bis zwei Prozent der straffällig gewordenen Pädosexuellen und Vergewaltiger aus, die sich chemisch kastrieren lassen. Was dabei passiert, erklärt die Leiterin des unabhängigen Forensischen Instituts Ostschweiz (Forio) so: «Die Medikation wirkt nicht auf die Präferenz selber, nicht auf die Fantasie, sondern nur auf den Sexualtrieb. Also bildlich gesprochen: Die Kastration wirkt nicht zwischen den Ohren, sondern zwischen den Beinen.»

Die Psychologin begleitet derzeit wenige Inhaftierte, die chemisch kastriert sind. Diesen Männern helfe die Medikation, denn: «Der Triebdruck geht weg.» Die Situation in Gefangenschaft kombiniert mit dem Medikament führe dazu, dass Sex für diese Männer irgendwann keine Rolle mehr spiele. Egli-Alge räumt aber ein, dass chemische Kastration nur in Einzelfällen angezeigt sei, nur bei einer «astreinen Motivation». Dazu gehöre ein grosses Leiden am eigenen Sexualtrieb. Ausserdem müssten zunächst mildere Möglichkeiten versucht worden sein. Sie erklärt: «Wir haben einige nicht straffällige Betroffene bei uns in Behandlung, die depressiv sind und Antidepressiva nehmen. Diese haben auch einen moderat libidohemmenden Effekt. Viele sagen, dass sie das als angenehm empfinden. Weil es dem Trieb die Spitze nimmt.»

Würde man die chemische Kastration dagegen auch in weniger klaren Fällen anwenden, könne das fatal sein, denn: Ein Täter, der wegen der Medikamente kaum noch eine Erektion bekomme, geschweige denn diese halten oder einen Orgasmus bekommen könne, brauche dann immer stärkere Fantasien und eben auch Handlungen, um so weit zu kommen.

Obwohl Baier wie Egli-Alge betonen, dass die chemische Kastration nur ganz selten das beste Mittel ist, um die Gefahr zu bannen, die von einem Täter ausgeht, sind beide überzeugt, dass sie bei wenigen Personen Teil der Lösung sein kann. Die Therapeuten bei Forio etwa würden diese Möglichkeit bei allen Betroffenen zunächst mitdenken, sagt Egli-Alge. Die Anwendung setze aber immer enge therapeutische Betreuung und Kontrolle voraus. Baier vergleicht die Situation mit Menschen, die eine psychische Erkrankung haben. Neben der Einnahme von Medikamenten würden auch diese intensiv therapeutisch begleitet.

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Wissenschaftlich wenig haltbar

Spricht man mit den für Sexualstraftäter zuständigen Experten, könnte der Eindruck entstehen, die chemische Kastration sei eine Art psychologische Hilfe für die Täter: Sie müssen damit weniger unter ihren Trieben leiden und finden eher zu innerer Ruhe. Diese Hilfe wiederum hat auch einen besseren Schutz der Gesellschaft zur Folge: Wer unter den richtigen Voraussetzungen chemisch kastriert ist, begeht demnach nämlich keine Straftaten mehr.

Nicht immer wurde die Kastration von Straftätern vor allem unter den Gesichtspunkten Hilfe für die Täter und Schutz der Gesellschaft betrachtet. Bis in die 1970er-Jahre hinein wurde die chirurgische Kastration, sprich die Entfernung der Hoden, hierzulande noch als Quasi-Sanktion angewendet, wie es der Berner Historiker Urs Germann 2014 in der Studie «Entmannung oder dauerhafte Verwahrung?» feststellte. Die geradezu archaische Massnahme gab den Justizbehörden damals ausserdem Spielraum, ermöglichte etwa gar frühere Entlassungen aus dem Gefängnis. Das ist heute nicht mehr so, wie Dirk Baier betont. «Die chemische Kastration allein führt in der Schweiz nicht zu einer Kürzung der Haftstrafe. Hierfür ist vielmehr die Prognose des zukünftigen Verhaltens entscheidend.»

Doch steht die selten angewendete Massnahme, die am Stammtisch gerne gefordert wird, wenn ein Pädosexueller aufgeflogen oder eine Frau brutal vergewaltigt worden ist, überhaupt auf festem wissenschaftlichem Boden? Untersuchungen zur Wirksamkeit der chemischen Kastration kommen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen, wie eine Übersichtsstudie vom vergangenen Jahr im Rahmen evidenzbasierter Kriminalprävention in Deutschland aufzeigt.

Laut der Autoren lassen zwar manche Studien erhoffen, die chemische Kastration verhindere Rückfälle, andere aber warnen davor. Und wieder andere kommen zum Schluss: Sie hat schlicht keinen Einfluss auf die Rückfallquote. So heisst es im Fazit der Übersichtsstudie, dass «bis heute keine methodisch belastbaren Studien vorliegen, die eine kriminalpräventive Wirksamkeit belegen». Es scheine fraglich, ob die derzeit bei (potenziellen) Sexualstraftätern eingesetzten Medikamente überhaupt eine Wirkung entfalten, die über den Placebo-Effekt hinausgingen. Und damit sei auch fraglich, ob die Gefahr, dass der so behandelte Mann zum ersten Mal oder erneut eine Verbrechen begeht, mit den Mitteln entscheidend reduziert werden könne. Man müsse auch die Verhältnismässigkeit im Auge behalten, da es zu möglicherweise nicht mehr rückgängig zu machenden Nebenwirkungen kommen könne. Man vermutet ausserdem, dass der Einsatz chemischer Kastration «eher als Beruhigungsmittel für Entscheidungsträger diene».

Passendes Argument für Populisten

Die deutsche Historikerin Annelie Ramsbrock beschäftigt sich unter anderem mit der Geschichte der Kastration. In Deutschland ist gemäss einem heuer 50 Jahre alten Gesetz sogar die chirurgische Kastration auf freiwilliger Basis noch erlaubt. Ramsbrock vertritt die These, dass die Beibehaltung des Gesetzes sowie die gesamten Verschärfungen im Sexualstrafrecht auch Ausdruck eines gewissen Populismus sind.

Dazu passt, dass die medikamentöse Zwangskastration in Polen 2009 und in Mazedonien 2014 eingeführt wurde. Und in Tschechien wird die chirurgische Kastration als Bedingung an Freilassungen geknüpft. Zwar müssen die Patienten den Eingriff selbst beantragen, «der Druck sei jedoch enorm», wie der Anti-Folter-Ausschuss des Europarats 2011 feststellte. Derselbe Ausschuss hat auch Deutschland wegen der per Gesetz noch immer möglichen chirurgischen Kastration angeklagt und der Regierung empfohlen, diese Praxis einzustellen. Eine Empfehlung, der Deutschland gemäss Ramsbrock bisher unter anderem wegen politischen Kalküls nicht gefolgt ist.

Auch in der Schweiz spielen manche Kreise auf diesem populistischen Instrument. So hat etwa SVP-Politiker Pierre Rusconi vor sechs Jahren ein Postulat zur Einführung chemischer Kastration bei rückfällig gewordenen Pädophilen und Vergewaltigern eingereicht. Der Bundesrat legte in seiner Antwort damals mit ähnlichen Argumenten wie in diesem Beitrag dar, warum eine automatische chemische Kastration keinen Sinn macht.

Soziologe Dirk Baier ist optimistisch, dass die radikale Massnahme hierzulande nicht zum erfolgreichen Vehikel für populistische Attacken gegen Justiz und Rechtspolitik wird. «Die Schweiz ist davor gefeit. Was den Strafvollzug betrifft, ist sie immer sehr wissenschaftsgetrieben.»

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