Für Guillaume Briquet besteht kein Zweifel: «Die Soldaten wollten mich töten.» Vor einem Jahr fuhr er durch die ukrainische Hafenstadt Mykolaiv, als ein russisches Kommando das Feuer auf ihn eröffnete.
Drei Kugeln knallten auf Kopfhöhe durch die Frontscheibe des Autos, in dem der Genfer Fotojournalist sass, und verfehlten ihn nur knapp. Briquet: «Sie haben ohne Vorwarnung von der Strassenseite aus geschossen.» Und das, obwohl sein Auto gross mit «Presse» angeschrieben war.
Briquets Fall machte international Schlagzeilen – und beschäftigt nun auch die obersten Ermittler der Schweiz. Die Bundesanwaltschaft (BA) hat ein Verfahren wegen Kriegsverbrechen eröffnet, das erste dieser Art im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine.
BA-Sprecher Anthony Brovarone hält sich aufgrund der laufenden Ermittlungen bedeckt, bestätigt aber: «Nach einer Anzeige einer Nichtregierungsorganisation wurde ein Strafverfahren eröffnet.» Die Ermittlungen richteten sich derzeit gegen Unbekannt. Brovarone lässt zudem durchblicken, dass zusätzliche Verfahren folgen könnten: «Es laufen weitere Abklärungen im Zusammenhang mit möglichen Völkerrechtsverbrechen.»
Er kam glimpflich davon
Die Anzeige stammt von der Nicht-Regierungsorganisation (NGO) Truth Hounds, die seit 2014 Kriegsverbrechen in der Ukraine dokumentiert. Die ukrainischen Rechercheure haben offenbar die Verantwortlichen für den Angriff auf Briquet identifiziert. Demnach handelt es sich um eine russische Spezialeinheit. Die entsprechenden Beweise hat die NGO der Bundesanwaltschaft übergeben. Unterstützt wurde Truth Hounds von Civitas Maxima, einer Schweizer Bürgerrechtsgruppe, die Rechtshilfe für Opfer internationaler Verbrechen leistet.
Der Genfer Fotograf kam vergleichsweise glimpflich davon. Glassplitter verletzten ihn im Gesicht und am Unterarm. Kurz nach den Schüssen kontrollierten ihn russische Soldaten, nahmen ihm den Reisepass weg und beschlagnahmten 3000 Euro in bar, die Fotoausrüstung sowie seinen Laptop. «Ich wurde von russischen Gaunern überfallen, unfassbar!», sagte er nach dem Überfall zu Blick.
Seit Beginn des Krieges laufen international Bemühungen, Beweise für die Verbrechen der Russen zu sammeln. Staaten und Gerichte bereiten sich auf Prozesse vor. Auch die Schweiz hilft mit. Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) hat bis jetzt rund ein Dutzend potenzielle Zeuginnen und Zeugen in der Schweiz befragt.
Zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Bei den Vernommenen handelt es sich um Flüchtlinge aus der Ukraine, die sich mit Informationen über mutmassliche Verstösse gegen das Völkerstrafrecht an den Bund gewandt haben. Das Fedpol hat dafür auf seiner Website ein Meldeformular aufgeschaltet.
«Ziel ist es, allfälligen Rechtshilfeersuchen rasch und zielführend entsprechen zu können», sagt BA-Sprecher Brovarone. So etwa, wenn sich Staaten oder der Internationale Strafgerichtshofe in Den Haag (Niederlande) an die Schweiz wenden. Darüber hinaus sollen rasch eigene Strafverfahren eröffnet werden können, sobald sich mutmassliche Kriegsverbrecher auf Schweizer Boden aufhalten.
Haben Sie Hinweise zu brisanten Geschichten? Schreiben Sie uns: recherche@ringier.ch
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Erst vor wenigen Tagen publizierte eine Untersuchungskommission des Uno-Menschenrechtsrats einen Bericht über Verstösse gegen das Völkerrecht durch russische Einheiten. Demnach haben Putins Kämpfer zahlreiche Kriegsverbrechen begangen. Die Liste ist lang und nennt vorsätzliche Tötungen, Angriffe auf Zivilisten, Folter, rechtswidrige Gefangenschaft, Vergewaltigung und erzwungene Abschiebungen von Kindern.
Laut dem in Genf vorgestellten Bericht können Angriffe der russischen Armee auf die Energieinfrastruktur der Ukraine ebenfalls als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewertet werden. Und: Auch gezielte Angriffe auf Medienschaffende gelten als Kriegsverbrechen.