«Schwierig für mich, mitten im Krieg gehen zu müssen»
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Botschafter Claude Wild:«Schwierig für mich, mitten im Krieg gehen zu müssen»

Schweizer Botschafter in Kiew
«Den Geruch der verwesten Leichen werde ich nie vergessen»

Claude Wild verlässt den Schweizer Botschaftsposten in Kiew Ende Monat. Den Krieg hat er hautnah erlebt. Ein Abschlussgespräch über mutige Schweizer Projekte, Kriegsverbrechen und den heftigsten Moment seiner Botschafter-Karriere.
Publiziert: 19.02.2023 um 23:59 Uhr
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Aktualisiert: 20.02.2023 um 08:07 Uhr
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Von 2019 bis 2023 hat Claude Wild (58) die Schweiz als Botschafter in Kiew vertreten. Ende Monat wird er nach Frankreich versetzt.
Foto: Samuel Schumacher
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Claude Wild (58) lässt sich von nichts aus der Ruhe bringen, nicht mal von den russischen Raketen, die in diesen späten Januartagen wieder auf Kiew regnen. Die Explosionen heute Morgen? Ja, die habe er auch gehört, sagt der Schweizer Botschafter in der Ukraine und bestellt bei der Botschaftsangestellten einen Kaffee.

Blick trifft Botschafter Wild Ende Januar in Kiew. Draussen herrscht eisiger Winter. Immer wieder tönen Alarmsirenen durch die ukrainische Hauptstadt. Auf dem Loungetischchen in Wilds Büro stehen Lindor-Kugeln und Blumen. Helvetische Parallelwelt inmitten des schrecklichen Kriegs.

Anfang März, als Putins Panzer plötzlich am Stadtrand von Kiew standen, wurde der Genfer mit Zürcher Wurzeln in einer spektakulären Aktion von der Schweizer Sondereinheit AAD 10 aus dem Land gebracht. Zwei Monate später eröffnete er die Botschaft in Kiew wieder. Angst, sagt Wild, sei in solchen Momenten kein guter Ratgeber.

Seither trotzt er mit seinen gut 40 Mitarbeitenden allen Widerständen, koordiniert die Schweizer Hilfe vor Ort, besucht immer wieder die betroffenen Gebiete, holte im Oktober Bundespräsident Ignazio Cassis (61) am Bahnhof in Kiew ab und sass mit Präsident Wolodimir Selenski (45) am selben Tisch.

Claude Wild hat Mut bewiesen in diesem Jahr, Einsatz geleistet, der teils zögerlichen Schweiz in der Ukraine ein entschlossenes Gesicht gegeben. Ende Monat wird er nach vier Jahren in Kiew nach Strassburg versetzt und startet als Vertreter der Schweiz beim Europarat. Ein Abschlussgespräch im Kriegsland.

Herr Wild, was hat dieses Jahr im Krieg mit Ihnen persönlich gemacht?
Claude Wild:
All diese Brutalität und Absurdität, das prägt einen. Fast täglich sterben Bekannte von Partnern, Mitarbeitenden oder Freunden. Das ist ganz anders, als wenn man den Krieg aus sicherer Entfernung als Schwall von Zahlen und Statistiken betrachtet. Zum Glück bin ich am Abend jeweils so müde, dass ich dennoch gut schlafen kann.

Welcher Moment ist Ihnen besonders geblieben?
Den Geruch der verwesten Leichen in der ostukrainischen Stadt Isjum: Den vergesse ich nie mehr. Ich war als Botschafter dabei, als die Massengräber in der befreiten Stadt ausgehoben worden sind.

Seit Mai ist ein Team der Sondereinheit AAD 10 der Schweizer Armee bei Ihnen einquartiert. Wie schützen sie die Botschaft?
Details kann ich Ihnen keine erzählen. Aber: Die Leute vom AAD 10 sind absolute Profis. Für jedes Problem hatten sie bisher immer schnell eine Lösung bereit.

Präsident Selenski fordert die Welt zu «mehr Geschwindigkeit und Entschlossenheit» auf. Wünschen Sie sich das auch von der Schweiz?
Die Schweiz hat schnell und entschlossen gehandelt. Es gibt im Krieg nicht nur die militärische, sondern auch die wirtschaftliche und die humanitäre Front. Die Schweiz ist an dieser zweiten und dritten Front sehr aktiv.

Wie genau?
Während andere Länder primär Geld an grosse Hilfsorganisationen spenden, gehen unsere Teams nahe an das umkämpfte Gebiet, um Wasserleitungen zu reparieren. Ein anderes Beispiel: Die Schweiz investiert 14 Millionen Franken in spezielle Schienenklammern, die die Ukraine für die Reparatur zerstörter Gleisabschnitte braucht. Das Bahn-Land Schweiz hilft dem Bahn-Land Ukraine. Rasch und unkompliziert.

Die Ukraine will, dass die Schweiz alle russischen Gelder konfisziert und für den Wiederaufbau nach dem Krieg zur Verfügung stellt. Eine gute Idee?
Der Wiederaufbau der Ukraine wird enorm viel Geld kosten. Wenn man aber nichts macht, werden die Kosten für Europa und die Welt noch viel grösser sein. Ob das Geld für den Wiederaufbau nur von uns Steuerzahlenden kommen oder ob man dafür russische Vermögen von sanktionierten Personen oder Kriegsfinanciers verwenden soll, ist sicher eine berechtigte Frage. Die meisten Länder haben aber keine Rechtsgrundlage für Enteignung – auch die Schweiz nicht. Die Schweiz wird sich an den internationalen Diskussionen weiterhin beteiligen.

Die Schweiz liefert weder Helme noch Waffen und bremst potenzielle Waffenlieferanten wie etwa Deutschland aus: Können wir uns dieses sture Festhalten an der Neutralität leisten?
Die Schweiz wendet das Neutralitätsrecht an. Und das besagt, dass wir keine Waffen an ein Land im Krieg liefern. Ob die Schweiz diesen rechtlichen Zustand flexibler gestalten soll, liegt in der Kompetenz des Parlaments und der Regierung.

In der Ukraine hat man wenig Verständnis für unsere Neutralität.
Die Ukraine steht mitten im Überlebenskampf und hat keine Zeit, sich detailliert mit unserer Neutralitätspolitik zu befassen. Aber selbstverständlich würde es hier sehr geschätzt, wenn auch die Schweiz Kriegsmaterial lieferte.

Welche Rolle könnte die Schweiz in einem Prozess gegen die Verantwortlichen des Kriegs spielen?
Alleine das «Center for Civil Liberties» in Kiew, das 2022 den Friedensnobelpreis gewonnen hat, hat bereits mehr als 29'000 Kriegsverbrechen in der Ukraine dokumentiert. Stand jetzt gibt es aber kein internationales Gericht, das den Tatbestand «Aggressionskrieg» behandeln könnte. Dazu bedürfte es eines neuen Ad-hoc-Gerichts. Welche Rolle die Schweiz da spielen könnte, kann ich momentan nicht beurteilen.

Als Mitglied des Uno-Sicherheitsrats kommt der Schweiz aktuell eine besondere Rolle zu. Ebenfalls in diesem Rat: Russland. Man müsste die Russen doch aus dem Rat rauswerfen!
Man wird nicht von einem Uno-Gremium ausgeschlossen, wenn man die Charta bricht. Bei der Uno geht es darum, dass alle miteinander reden und verhandeln. Der Dialog ist das zentrale Instrument. Er erlaubt es, durch Gespräche und Resolutionen einem Aggressor klare Botschaften zukommen zu lassen.

Ende Monat räumen Sie den Botschaftsposten nach vier Jahren in Kiew. Ist ein Personalwechsel an der Botschaftsspitze inmitten des Kriegs sinnvoll?
Der Abgang fällt mir persönlich schwer. Es ist nicht einfach, mein Team hier mitten im Krieg zu verlassen. Aber die Regeln sind klar und gut begründet: Der Botschafter verlässt das Land nach vier Jahren, in meinem Fall in Richtung Strassburg, wo ich als Botschafter der Schweiz beim Europarat wirken werde.

Welche Erkenntnis nehmen Sie aus Ihren vier Jahren in Kiew mit?
Der Krieg in der Ukraine zeigt, wie schnell ein Land und seine Bevölkerung aus völlig absurden Gründen zerstört werden können. Es ist immens wichtig, dass wir uns selbst und alles, was wir erarbeitet und erreicht haben, auf allen Ebenen schützen. Nicht nur defensiv, sondern proaktiv. Zentral dafür sind freie und frei denkende Menschen. Ohne sie sind wir verloren.

Was kann die Schweiz von der Ukraine lernen?
Die Ukrainerinnen und Ukrainer vereinen Stärke, Kopf und Herz auf einzigartige Weise. Das hat sich im Überlebenskampf des Landes deutlich gezeigt. Schön wäre, wenn diese Kombination nicht nur da zum Ausdruck kommt, wo sich ein Land mit Waffen verteidigen muss, sondern auch andernorts und in Friedenszeiten.

Mutiger Mann

Claude Wild (58) ist seit 2019 Schweizer Botschafter in Kiew. Anfang März ist der Diplomat mit seinem Team aus der Ukraine geflohen und hat sein Büro temporär in die moldawische Hauptstadt Chisinau verlegt. Seit Mai ist Wild mit insgesamt 41 Mitarbeitenden wieder zurück in der Botschaft in Kiew. Seine Diplomatenlaufbahn führte Wild u.a. an Stationen in Nigeria, Kanada, Brüssel und ab 2015 für vier Jahre als Vertreter der Schweiz bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

Claude Wild (58) ist seit 2019 Schweizer Botschafter in Kiew. Anfang März ist der Diplomat mit seinem Team aus der Ukraine geflohen und hat sein Büro temporär in die moldawische Hauptstadt Chisinau verlegt. Seit Mai ist Wild mit insgesamt 41 Mitarbeitenden wieder zurück in der Botschaft in Kiew. Seine Diplomatenlaufbahn führte Wild u.a. an Stationen in Nigeria, Kanada, Brüssel und ab 2015 für vier Jahre als Vertreter der Schweiz bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

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