Kaum drei Schritte können Vitali Klitschko (51) und sein Bruder Wladimir (46) auf der Davoser Promenade machen, ohne dass sie von irgendjemandem um ein Selfie gebeten werden. Die beiden ukrainischen Riesen – Kiews Bürgermeister Vitali ist 2,01 Meter gross, sein Bruder immerhin 1,98 – sind die wortwörtlich herausragenden Gäste am WEF. Und trotz des vollen Tagesplans und trotz der schwierigen Situation in ihrer Heimat: Beim Interview mit Blick, das Vitali Klitschko auf Deutsch gibt, wirkt er konzentriert und entspannt.
Blick: Herr Klitschko, am Mittwoch ist der ukrainische Innenminister Denys Monastyrskyi bei einem Helikopter-Absturz in der Nähe Ihrer Heimatstadt ums Leben gekommen. Was wissen Sie über die Hintergründe?
Vitali Klitschko: Ein Teil unserer Regierung war unterwegs in die ostukrainische Stadt Dnipro, wo eine russische Rakete vor einigen Tagen einen Wohnblock zerstört und mindestens 45 Menschen getötet hat. Tragischerweise ist der Helikopter mit dem Innenminister direkt auf einen Kindergarten gestürzt. Unter den mindestens 18 Toten sind auch drei Kinder. Über die Absturzursache können wir derzeit nur spekulieren.
Der Angriff auf Dnipro ist das jüngste Beispiel des russischen Terrors gegen zivile Ziele in der Ukraine. Wie beeinflusst der Horror des Krieges Ihren persönlichen Alltag als Bürgermeister?
Seit Kriegsausbruch ist der Raketenalarm in Kiew 645-mal ausgelöst worden. Zusammengenommen haben unsere Bürgerinnen und Bürger einen ganzen Monat ihres Lebens im Bunker verbracht. Alles wegen dieses sinnlosen Krieges. Das Risiko ist durch die Angriffe der Kamikazedrohnen jetzt noch immer jeden Tag gross. Diese Drohnen und Raketen können überall in der Ukraine jeden Moment einschlagen.
Und Sie selbst gehen noch bei jedem Alarm in den Luftschutzkeller?
Nicht immer, ehrlich gesagt. Ich will ein Vorbild sein für die Bewohner meiner Stadt. Aber ich muss bestimmte Risiken eingehen. Etwa dann, wenn ich die Orte in der Stadt besuche, die von russischen Raketen getroffen worden sind. Oder wenn wir mit unserer Feuerwehr und den Ambulanzen versuchen, Menschenleben zu retten.
Vitali Klitschko (51) ist seit 2014 Stadtpräsident von Kiew und Präsident der Partei Ukrainische demokratische Allianz für Reformen (UDAR), die er 2010 gegründet hat. Von 1996 bis 2013 war er als Profiboxer aktiv – der ehemalige Weltmeister im Schwergewicht trug den Kampfnamen «Dr. Eisenfaust». Wie auch sein Bruder Wladimir lebte Vitali Klitschko lange in Deutschland. Er ist geschieden und hat drei Kinder.
Vitali Klitschko (51) ist seit 2014 Stadtpräsident von Kiew und Präsident der Partei Ukrainische demokratische Allianz für Reformen (UDAR), die er 2010 gegründet hat. Von 1996 bis 2013 war er als Profiboxer aktiv – der ehemalige Weltmeister im Schwergewicht trug den Kampfnamen «Dr. Eisenfaust». Wie auch sein Bruder Wladimir lebte Vitali Klitschko lange in Deutschland. Er ist geschieden und hat drei Kinder.
Russland will seine Armee massiv vergrössern. Ein neuer Angriff auf Kiew ist nicht ausgeschlossen. Wie bereiten Sie die Stadt darauf vor?
Wir haben viele Überraschungen für die Angreifer vorbereitet. Ich empfehle den russischen Soldaten, nicht noch einmal nach Kiew zu kommen. Das wird für sie sehr blutig enden. Aber wir kennen die russischen Pläne. Kiew war immer ein Ziel des russischen Aggressors, und leider bleibt es das auch. Ein neuer Angriff aus Norden von Weissrussland her bleibt realistisch.
Würden Sie selber zur Waffe greifen?
Als ehemaliger Soldat habe ich versprochen: Wenn es ernst gilt, bin ich bereit, ohne nachzudenken eine Waffe in die Hände zu nehmen und mein Land zu verteidigen. Mein Vater war General. Er hat mir beigebracht, dass es die grösste Ehre ist für einen Mann, sein Leben für sein Land zu geben.
Gab es Versuche, Sie umzubringen?
Jeder Bürgermeister in der Ukraine ist ein Ziel. 37 ukrainische Bürgermeister wurden vorübergehend entführt. Sieben sind noch immer verschollen. Einer wurde getötet. So ist das Leben. Wir müssen das ernst nehmen – und trotzdem unsere Aufgabe erfüllen.
Was haben Sie am WEF in Davos erreicht?
Solange das flächenmässig grösste Land in Europa instabil ist, bleibt der ganze Kontinent instabil. Um das zu ändern, brauchen wir mehr Unterstützung für die Ukraine – Hilfe für den Wiederaufbau und Waffenlieferungen.
Haben Sie auch Mitglieder der Schweizer Regierung getroffen?
Ich habe Mitglieder des Parlaments getroffen, Wirtschaftsvertreter und auch Vertreter der Schweizer Regierung. Wir haben sehr viele Gespräche geführt. Ich habe eine Aussage sehr oft gehört: Wir sind ein neutrales Land.
Und was sagen Sie zum Schweizer Festhalten an der Neutralität?
Wenn es um Menschenrechte geht, um Leben und Tod, um Krieg und Frieden, dann kann man nicht neutral sein. Man muss Haltung zeigen! Die Sanktionen wirken sehr gut gegen Russland. Jeder Dollar, jeder Euro, jeder Franken, den man nach Russland schickt, kommt der russischen Armee zugute. An diesem Geld klebt ukrainisches Blut. Deshalb nochmals: Auf der einen Seite verstehen wir die Schweiz und ihre Neutralität. Aber in der heutigen Zeit, wenn es um gemeinsame Werte geht, dann kann man nicht neutral sein.
Soll die Schweiz auch Waffen liefern?
Ich bitte die Schweiz um die Lieferung von Verteidigungswaffen, die das Leben der Menschen schützen – zum Beispiel Luftabwehrsysteme. Allein in Kiew sind über 150 Menschen durch russische Raketen- und Drohnenangriffe gestorben.
Sie waren vor acht Monaten am WEF, nun sind Sie wieder da. Haben Sie heute mehr Hoffnung als damals im Mai, dass der Krieg bald vorbei ist?
Vor acht Monaten war die Situation viel kritischer als heute. Russische Soldaten standen damals an der Grenze zu Kiew. Heute sind keine Russen mehr da, ein grosser Teil der Ukraine wurde von ukrainischen Soldaten befreit. Unsere Soldaten sind heute viel stärker als damals, wir haben viel mehr Erfahrung und mehr Unterstützung. Die Situation ist immer noch schwierig, aber stabil.
Sind Sie überzeugt, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt?
Ja, davon bin ich fest überzeugt. Ich kann auch erklären, warum. Als ehemaliger Kämpfer weiss ich: Grösse und Kraft spielen eine Rolle, aber nicht die entscheidende. Noch wichtiger ist der Wille zum Sieg, der Spirit. Wir sind extrem motiviert. Russische Soldaten kämpfen für Geld, wir verteidigen unsere Familien und Kinder. Und unsere Zukunft.
Früher als Boxer kämpften Sie Mann gegen Mann. Heute versteckt sich Ihr Gegner im Kreml. Was würden Sie Putin sagen, wenn Sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstünden?
Es ergibt keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren. Denn Putin ist krank. Ein gesunder Mensch kommt nicht auf die verrückte Idee, ein russisches Imperium aufzubauen und dafür Tausende Menschen sterben zu lassen. Er ist ein Verbrecher und muss Verantwortung tragen für all das Böse, das er über die Welt gebracht hat.