Im Bunker gibt es Tee und Mandarinli. Immerhin. Dicht an dicht sitzen wir um kurz nach 9 Uhr morgens in einem Keller der Kiewer Innenstadt. Dutzende wildfremder Menschen, einige im Anzug und mit aufgeklapptem Laptop, andere im Pyjama und mit verschlafenem Blick. Ein Kursleiter referiert vor einer Gruppe junger Erwachsener. Ein Mann in Kellnerkluft geht nervös auf und ab.
Nach einer knappen Stunde schweigen die Sirenen. Der Spuk ist vorbei. Aber nur kurz: Noch fünfmal wird ihr Geheul an diesem Tag über die verschneiten Dächer von Kiew dröhnen. Beim letzten Mal, kurz nach Mitternacht, bleibe ich einfach resigniert im Bett. Ich verkrieche mich unter der Decke, die zwar Geborgenheit bietet, aber keinen Schutz. Jederzeit können auch jetzt tödliche Geschosse herunterprasseln.
Zwanzig Raketen und ein Dutzend Kamikaze-Drohnen hat Russland binnen 24 Stunden auf die ukrainische Hauptstadt abgefeuert. Die Luftverteidigung konnte die meisten abfangen. Aber nicht alle. Es gab Tote. Und es traf wieder ein Energieversorgungszentrum. Für die Menschen in Kiew ist das der Alltag. Anderswo quittiert man das mit Schulterzucken. Dabei müsste die Welt doch täglich schäumen vor Wut. Man stelle sich vor, der russische Terror träfe eine andere Stadt in Europa: Raketen auf Barcelona, Bomben in Paris, Kamikaze-Drohnen über Basel …
Kein Rotlicht, kein 4G, nur Dunkelheit
Seit die Russen im Spätherbst damit begonnen haben, die ukrainische Energie-Infrastruktur gezielt zu bombardieren, ist Elektrizität in der Millionenmetropole stark rationiert. Ganze Quartiere versinken nach Sonnenuntergang in totaler Dunkelheit. Mancherorts blinken nur noch die letzten Weihnachtsgirlanden vor schwarzen Fassaden. In den Gassen rattern Notstromgeneratoren wie Mähdrescher. Das 4G-Handy-Netz ist zusammengebrochen. Das Feierabendbier bei einem Bekannten trinken wir vor dem offenen Kühlschrank, der einzigen Lichtquelle in der Wohnung.
Am schlimmsten sei es im Verkehr, sagt Dina Didenko (45) und steuert ihren Suzuki vorsichtig durch die Feierabend-Rushhour. «Seit sie die Ampeln ausgeschaltet haben, ist es richtig gefährlich geworden», klagt die Deutschlehrerin. Draussen ziehen dunkle Silhouetten vorbei. Das Quartier Vyguryshchyna liegt leblos da wie eine Geisterstadt. Wir fahren langsam weiter über eine schwarze Brücke, über einen schwarzen Fluss. «Immer, wenn ich den Dnepr überquere, habe ich Angst», sagt Didenko. «Was passiert, wenn sie jetzt die Brücke bombardieren und ich nicht mehr rüberkomme?»
Mit solchen Fragen schlagen sich die fast drei Millionen Menschen in Kiew täglich herum. Wenigstens sind die russischen Truppen weg, die noch im Frühjahr in den Aussenquartieren standen. Geblieben ist die Zerstörung, Betonblöcke und Eisenkreuze für Strassenblockaden. Fein säuberlich aufgestapelt stehen sie an den Strassenrändern wie die Salzbehälter in der winterlichen Schweiz, mit denen man gegen das Glatteis kämpft.
Wo sind nur die Kinder hin?
Doch Salz hilft nicht gegen Raketen. Das Gefühl, ausgeliefert zu sein, lastet schwer auf Kiew. Wohin setze ich mich im Restaurant? Welches Zimmer buche ich im Hotel? Wie lange bleibe ich auf diesem Platz stehen? «Stay safe», passen Sie auf sich auf, sagt die Rezeptionistin im Hotel, wenn ich am Morgen hinausgehe. Viele sagen das hier. Vielleicht sieht man sich ja gerade zum letzten Mal.
Mit dem Wissen, dass alles jederzeit enden könnte, strömt eine seltsame Intensität in die Stadt. Noch immer gibt es abends ab 23 Uhr eine Ausgangssperre. Auffällig oft hört man aus den Restaurantküchen oder in den Taxis schon am Nachmittag laute Musik. Maksim, der Uber-Fahrer, kurvt schon seit dem Morgen in seiner pompösen Techno-Kluft herum. Das Nachtleben hat sich in den Tag verschoben, der Feierabend nistet sich im helllichten Alltag ein.
Aber wo sind die Kinder? Nirgends zu sehen. Der Krieg hat sie vertrieben. Sie sind im Westen des Landes, Hunderttausende im Ausland. Kein Geschrei, kein lautes Lachen, kein unbeschwertes Spiel. Kein Ort kann glücklich sein ohne Kinder.
Von Othmarsingen an die Ost-Front
Die klebrige Januar-Kälte verstärkt das Gefühl, dass hier alles irgendwie erstarrt ist. Feucht und schwer legt sie sich auf die Gesichter. Ich denke an die Hunderttausenden, die an irgendwelchen Fronten tagelang im Freien ausharren, um den Invasoren das Vorrücken zu verwehren. Ich denke daran, wie sie frieren müssen. Es tröstet mich, dass unser Verteidigungsdepartement ihnen jetzt 170'000 Paar Schweizer Armee-Handschuhe schickt und 40'000 Paar Soldatensocken, von Othmarsingen AG direkt an die Ost-Front.
Den Menschen in Kiew bleiben kleine Fluchten in die Generatoren-Wärme der hippen Grossstadt-Cafés mit ihren fruchtig-sauren Espressi. Im schwarzen Kapuzen-Pulli sitzt Oleksander Bornyakow (40), stellvertretender Minister des neu geschaffenen Ministeriums für digitale Transformation, an einem der Tische: «Die Raketen haben heute alles durcheinandergebracht», sagt er. Dabei hatte er so viel zu tun.
Mit seinem Ministerium will Bornyakow bis Ende 2024 alle staatlichen Dienstleistungen digitalisiert haben. Die Ukraine soll für ihre Bürger das angenehmste Land der Welt werden, trotz aller momentanen Widrigkeiten. Heiraten und Neugeborene registrieren und Steuererklärungen ausfüllen: Alles kann man in wenigen Minuten mit einer einzigen App («Diia») erledigen. Und den E-Pass gibts schon heute.
Seit Beginn des Kriegs aber haben sich die Prioritäten auch in Bornyakows Ministerium verschoben. Seine Leute unterstützen jetzt mit ihrem Know-how Hacker-Kollektive und Drohnen-Truppen, die gegen Russland kämpfen. «Wir müssen diesen Krieg gewinnen, wir müssen sämtliche Mittel dafür mobilisieren, sonst waren all unsere Bemühungen vergebens», sagt Bornyakow. Sonst erwacht Kiew nie mehr aus seiner traurigen Starre.