Stefan Loppacher will nicht mehr Priester sein
«Ich liebe eine Frau»

Die Bischöfe bekämpfen den Missbrauch nicht entschieden genug, kritisiert der Priester Stefan Loppacher. Erstmals spricht er über seine Erfahrungen in einer katholischen Sekte – und wie er die Liebe seines Lebens fand.
Publiziert: 13.11.2023 um 00:14 Uhr
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Aktualisiert: 13.11.2023 um 07:34 Uhr
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Der Priester Stefan Loppacher berät die Bischöfe in Präventionsfragen.
Foto: Siggi Bucher
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Raphael RauchBundeshausredaktor

Herr Loppacher, Sie beraten die Schweizer Bischöfe in Sachen Präventionsarbeit. Haben die Bischöfe den Ernst der Lage erkannt?
Stefan Loppacher: Nur teilweise. Die wirklich heiklen Fragen versucht man weiter zu umschiffen. Niemand spricht von den konkreten Risiken. Ich sehe an der Spitze noch keine Debatte zu Sexualmoral, überhöhtem Priesteramt, gefährlichen Ideologien oder zum Umgang mit Macht. Genau hier setzt wirksame Prävention an. 

Seit zwei Monaten diskutiert die Schweiz den katholischen Missbrauchskomplex. Welcher Aspekt kommt Ihnen zu kurz?
Wir dürfen den spirituellen Machtmissbrauch nicht vergessen. Es gibt Priester in der Schweiz, die Menschen mit der Hölle drohen und mit Drohkulissen gefügig machen. Teilweise geht es zu wie bei Salafisten: Wenn du dich nicht an die Regeln hältst, bist du des Teufels! Die katholische Kirche hat ein Sektenproblem – darüber müssen wir sprechen.

Werden Sie konkret!
Als junger Student und Priester gehörte ich viele Jahre den Servi della Sofferenza an, den Dienern des Leidens. Auf dem Papier ist das eine fromme Bewegung, die Padre Pio zum Vorbild hat.

Padre Pio ist ein süditalienischer Heiliger, der auch in der Schweiz Kultstatus hat.
In manchen Pizzerien hängt ein Bild von ihm, er hat für viele eine Talisman-Funktion. Den Dienern des Leidens geht es aber nicht um katholische Folklore, sondern um bitteren Ernst. Alle Mitglieder müssen ihr Leben komplett der Gemeinschaft unterwerfen. Ich war in einer katholischen Sekte.

Was macht für Sie eine Sekte aus?
Es gibt eine autoritäre Führung mit guruhaften Ansprüchen und einen starken Personenkult. Es gibt einen Absolutheitsanspruch nach dem Motto: Wir sind die Einzigen, die im Besitz der Wahrheit sind – alle anderen liegen falsch. Kritik wird unterbunden, die soziale Kontrolle ist massiv, und die Leitung weiss praktisch alles – von intimsten Gedanken bis zu den finanziellen Verhältnissen.

Warum war das für Sie attraktiv?
Ich lernte die Diener des Leidens während meines Auslandsstudiums in Rom kennen. Mich faszinierte die bedingungslose Treue zum Papst und zum Lehramt. Es gab viele junge Leute, die aktiv dabei waren. Die Gruppe ist im Vatikan bestens vernetzt. Als einfacher Theologiestudent hatte ich plötzlich Zugang zu Kardinälen. Das imponiert und macht einen für Manipulation empfänglich.

Zunächst war also alles aufregend?
Ja. Die Diener des Leidens leben kein geschlossenes Klosterleben, sondern gehen alle ihrem Job nach und treffen sich regelmässig zu Gebetstreffen. Immer wieder fahren sie nach Süditalien in die Heimat von Padre Pio. Das sind auf den ersten Blick tolle Ausflüge.

Wann haben Sie gemerkt, dass Sie in einer Sekte sind?
Erst, als ich sehr depressiv wurde. Ich war kurz davor, mir das Leben zu nehmen, und habe einen guten Therapeuten gefunden. Während der Therapie wurde mir klar: Ich muss da raus! Rückblickend hätte ich das alles schon früh merken müssen.

Warum?
Der Guru der Gemeinschaft, Pierino Galeone, hat mich gleich zu Beginn mit Fragen zu meiner Sexualität gelöchert. Und er hat mich in der Beichte verpflichtet: Sobald ich zurück in der Schweiz bin, soll ich mein Konto leer räumen und alles Geld an die Gemeinschaft überweisen. Er wollte auch, dass ich Geschenke wie Schmuckstücke oder Goldmünzen abliefere. 

Kam Ihnen das nicht seltsam vor?
Ich war damals überzeugt, dass der Priester an Gottes Stelle zu mir spricht. Ich hatte Angst, den Glauben zu verraten und meine Beziehung mit Gott zu verlieren. Ich habe insgesamt 120'000 Franken an die Diener des Leidens überwiesen. Über ein kirchenrechtliches Verfahren habe ich einen Teil des Geldes zurückerhalten.

Was empört Sie am meisten?
Die Diener des Leidens verklären das Leiden. Manche trauen sich nicht, zum Arzt zu gehen, und zwar mit der Begründung: Jesus musste doch auch am Kreuz leiden, um Menschen vor der Hölle zu retten. Mit dieser kruden Theologie gefährden die Diener des Leidens die Gesundheit ihrer Mitglieder! Egal, wie viele Leute geschädigt werden: Man lässt die einfach weitermachen.

Persönlich: Stefan Loppacher

Stefan Loppacher (44) ist promovierter Kirchenrechtler. Als Präventionsbeauftragter des Bistums Chur und als Leiter der Geschäftsstelle «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» der Schweizer Bischofskonferenz hat er sich für das Zustandekommen der Missbrauchsstudie der Uni Zürich eingesetzt. Loppacher stammt aus dem Kanton Schwyz und studierte nach einer Berufslehre als Medienelektroniker Theologie. 2006 wurde er zum Priester geweiht.

Stefan Loppacher (44) ist promovierter Kirchenrechtler. Als Präventionsbeauftragter des Bistums Chur und als Leiter der Geschäftsstelle «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» der Schweizer Bischofskonferenz hat er sich für das Zustandekommen der Missbrauchsstudie der Uni Zürich eingesetzt. Loppacher stammt aus dem Kanton Schwyz und studierte nach einer Berufslehre als Medienelektroniker Theologie. 2006 wurde er zum Priester geweiht.

Was hat Ihnen geholfen?
Die Erkenntnis, dass meine radikale katholische Religiosität mir massiv geschadet hat. Ich war mir selbst zum Feind geworden. Mit 33 Jahren musste ich mich neu erfinden und Dinge lernen, die für andere Menschen völlig selbstverständlich sind. Zum Beispiel, dass das Leben schön ist und nicht voller Sünde. Und dass es das Normalste der Welt ist, Lust auf ein Steak, ein Glas Wein oder Sex zu haben. 

Können Sie noch Priester sein?
Nein. Seit 2012 habe ich das Priestersein nur noch so mitgeschleppt. 2019 habe ich zum letzten Mal eine Messe gefeiert. Ich konnte einfach nicht mehr. Ich habe in zu viele Abgründe blicken müssen – persönlich und durch meine Tätigkeiten in der Missbrauchsthematik. 

Wie geht es Ihnen heute?
Es ging mir noch nie so gut wie heute. 2019 habe ich meine heutige Partnerin kennengelernt. Die letzten vier Jahre waren die besten meines Lebens.

Wie lernt man als Priester eine Frau kennen?
In einem Hotel am Single-Tisch (lacht).

Wie bitte?
Ich war 2019 in Deutschland in den Ferien. Im Speisesaal des Hotels gab es einen Tisch für alle Gäste, die ein Einzelzimmer gebucht hatten. Am ersten Abend waren drei Männer am Tisch, am zweiten Abend kam meine jetzige Partnerin hinzu.

Eine verbotene Liebe à la «Dornenvögel»?
Nur für kurze Zeit. Im selben Jahr habe ich aufgehört, als Priester zu arbeiten. Ich führe kein Doppelleben, sondern stehe zu meiner Partnerin.

Die Diener des Leidens sind vor allem im Bistum Chur aktiv. Hat Bischof Joseph Bonnemain dieses Kapitel schon aufgearbeitet?
Nein. Bis vor kurzem war sogar der Leiter des Churer Priesterseminars Mitglied der Diener des Leidens und hatte so direkten Einfluss auf den Priesternachwuchs. Noch heute gehen Diener und Dienerinnen des Leidens beim Bischof in Chur ein und aus. Für die bin ich ein Verräter. Die Aufarbeitung dieses Kapitels dürfte für viele noch sehr schmerzhaft werden.

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