Die Schweizer Bischöfe stehen seit einer Woche massiv unter Druck. Historikerinnen der Uni Zürich halten in einer Studie fest: Es gab seit 1950 mindestens 1002 Fälle von sexuellem Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche der Schweiz. Die Dunkelziffer ist hoch, Akten wurden vernichtet.
Wie Blick erfuhr, bedroht ein anonymer E-Mail-Schreiber die Geschäftsstelle der Schweizer Bischofskonferenz in Freiburg. Der Generalsekretär der Bischofskonferenz, Davide Pesenti (41), wies am Freitag die Mitarbeitenden an, die Büros bis 17.15 Uhr zu verlassen. Für 18 Uhr sollte es eine Protest-Demo geben, wenn bestimmte Forderungen nicht erfüllt werden.
Die Bischofskonferenz schaltete die Kantonspolizei Freiburg ein. Zur Demo kam es nicht. Eine Sprecherin der Kapo Freiburg zu Blick: «Wir stehen mit der Bischofskonferenz in Kontakt, um das weitere Vorgehen zu bewerten. Auch die Staatsanwaltschaft ist informiert.»
Keine vollständige Bischofskonferenz
Die Oberhirten tagen diese Woche von Montag bis Mittwoch in St. Gallen. Thema Nummer eins: die Missbrauchskrise der katholischen Kirche. Am Dienstag feiern die Bischöfe um 12 Uhr eine öffentliche Messe in der St. Galler Kathedrale, zu der auch Gläubige eingeladen sind. Aufgrund der Droh-E-Mail ist auch Stadtpolizei St. Gallen in Alarmbereitschaft: «Wir zeigen vor der Kathedrale verstärkt Präsenz.»
Die Bischofskonferenz kommt nicht vollzählig zusammen. Der Abt von St-Maurice, Jean Scarcella (71), lässt nach Vorwürfen sexueller Belästigung sein Amt ruhen. Der Freiburger Bischof Charles Morerod (61) ist gesundheitlich angeschlagen. Am Mittwochabend wurde er operiert – Folgen eines Fahrradsturzes vor einigen Monaten.
Doch auch abseits der Bischofskonferenz tut sich einiges im katholischen Missbrauchskomplex:
Präventionsexperte fordert mehr Tempo
Der Präventionsbeauftragte des Bistums Chur, Stefan Loppacher (44), fordert von den Bischöfen mehr Tempo. «Die Bischöfe hatten 20 Jahre Zeit, um bei der Präventionsarbeit vorwärtszumachen. Die Zeit haben sie viel zu wenig genutzt», kritisiert Loppacher gegenüber Blick. «Der Bund sollte einen unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs in Institutionen ernennen. Der Beauftragte sollte der Kirche immer wieder auf die Finger schauen und überprüfen, ob den Ankündigungen auch Taten folgen.» In Deutschland gebe es bereits ein solches Amt. Loppacher ist überzeugt: «Ohne Unterstützung durch den Staat wird die Kirche das nicht schaffen.» Loppacher geht von einer hohen Dunkelziffer in der Schweiz aus: In den letzten 70 Jahre habe es wohl 10’000 bis 15’000 Missbrauchsfälle im katholischen Umfeld gegeben. «Das ist eine konservative Schätzung», sagt Loppacher.
Loppacher und Bonnemain im «Club»
Loppacher tritt mit dem Bischof von Chur, Joseph Bonnemain (75), am Dienstagabend im SRF-«Club» auf. Wie SonntagsBlick enthüllte, hat der Vatikan Bonnemain als Sonderermittler gegen seine Bischofskollegen eingesetzt. Er muss verschiedene Vorwürfe prüfen. In einem Fall geht es um sexuelle Belästigung, in den anderen Fällen um Vertuschung. Doch nun steht auch Bonnemain in der Kritik. Denn Bonnemain ging nicht sofort zur Polizei, nachdem er von den Missbrauchsvorwürfen erfahren hatte. Die Bischöfe reagierten erst nach Recherchen von SonntagsBlick.
Whistleblower nimmt Politiker ins Gebet
Der Berner Pfarrer Nicolas Betticher (62) brachte mit einer kircheninternen Anzeige die Sonderermittlungen gegen Schweizer Würdenträger ins Rollen. Am Mittwoch nimmt er Politikerinnen und Politiker ins Gebet. «Ich wurde vom Parlamentsbüro eingeladen, das Morgengebet zu sprechen. Ich werde die Politik bitten, in Rom etwas zu erreichen», sagt Betticher zu Blick.
Religionsministerin sieht Bischöfe in der Pflicht
Auch die Politik reagiert auf die Missbrauchsstudie. Die Zürcher Religionsministerin Jacqueline Fehr (60) fordert Reformen in der Kirche. Sie kritisiert die «kircheninterne Pseudo-Gerichtsbarkeit». Auch innerkirchliche Opferberatungsstellen sieht sie sehr kritisch. In erster Linie sieht Fehr die Bischöfe in der Pflicht: «Es ist nur die halbe Lösung, wenn sie von aussen kommt», sagte Fehr dem SonntagsBlick. «Wenn sich die Bischöfe nicht in der Lage sehen, selbst zu handeln, behalten wir uns vor, aktiv zu werden.»
Debatte über Kirchensteuern
Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Kirche debattieren über finanzielle Konsequenzen aufgrund des Missbrauchsskandals. Es gibt verschiedene Forderungen: angefangen davon, Staatsbeiträge stärker an Präventionsarbeit zu knüpfen, bis zum sofortigen Geldstopp.
Uni Zürich setzt Studie fort
Die Historikerinnen der Uni Zürich setzen die Missbrauchsstudie in den nächsten Jahren fort. Sie fordern einen Zugang zu Akten in Rom und in der Papst-Botschaft in Bern. Für die Akteneinsicht im Vatikan will sich Bischof Bonnemain zur Not beim Papst persönlich einsetzen. Der Papst-Botschafter in Bern, Martin Krebs, lehnt eine Öffnung des Botschafts-Archivs ab und verweist auf den diplomatischen Schutz, den alle Botschaften geniessen.