Blick besuchte am Buss- und Bettag fünf katholische Messen
Was sagen die Pfarrer zum Missbrauchs-Skandal?

Am Sonntag war die erste Messe nach Bekanntwerden des Missbrauchskandals. Wie haben die katholischen Pfarrer reagiert? Blick hat fünf Gottesdienste in der ganzen Schweiz besucht.
Publiziert: 17.09.2023 um 18:28 Uhr
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Aktualisiert: 18.09.2023 um 09:02 Uhr
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War für Blick an der Messe des Klosters Einsiedeln: Reporter Beat Michel.
Foto: Blick

Die katholischen Pfarrer standen am Sonntag in der ganzen Schweiz vor einer schwierigen Aufgabe: Was soll man zu den Missbrauchsfällen, die diese Woche ans Licht kamen, sagen? Oder ist es besser, zu schweigen?

Es war die erste Sonntagsmesse, nachdem ein Schlaglicht auf die dunklen Seiten der katholischen Kirche geworfen wurde. Über 1000 Missbrauchsfälle seit 1950 sind in einer am Dienstag veröffentlichten Studie der Universität Zürich dokumentiert. 1000 Mal haben sich Priester an Schutzbefohlenen vergriffen, oft Burschen. Die meisten Täter kamen davon. Weil die Kirche wegschaute, ignorierte und vertuschte.

Die ganze Woche über rollte eine Welle der Entrüstung über die katholische Kirche. Die Menschen traten in Scharen aus. Und forderten Antworten von den Kirchen-Oberen.

Blick hat am Buss- und Bettag verschiedene Gottesdienste in der ganzen Schweiz besucht. Fazit: Viele Pfarrer sprechen den Skandal offen an. Aber nicht alle.

Kirche St. Marien in Wädenswil ZH, 10 bis 11.15 Uhr

Es sei keine einfache Situation, schickte Pfarrer Markus Dettling (58) seiner Predigt voraus – «gerade nach dieser Woche». Der Ausschnitt aus dem Matthäusevangelium, über den er an diesem Sonntagmorgen sprach, drehte sich ums Thema Vergebung. Nicht siebenmal, sondern «siebzigmal siebenmal» soll man seinen Mitmenschen vergeben, so die Ansage Jesu. «Das ist nicht einfach. Wir kennen das aus unserem Leben, vielleicht gerade jetzt», so Dettling.

Weil er die ganze Woche beruflich unterwegs war, hatte er seine Predigt schon vor längerem vorbereitet, erzählt der Priester später beim Kirchenkafi.

Mehr als einige Anpassungen habe er am Samstagabend nicht mehr machen können. Doch es sei ihm wichtig gewesen, Stellung zu beziehen. Kurz zwar, aber deutlich. «Was passiert ist, ist schlimm», sagte Dettling zu den gut hundert anwesenden Katholiken. Täter müssten überführt werden und «der Gerechtigkeit zugeführt werden». Aus ihm sprach dabei wohl auch der Staatsanwalt, der der Kirchen-Quereinsteiger früher einmal war. Auch in der Fürbitte am Ende der Messe kam der Missbrauchsskandal zur Sprache – indem man für die krisengeschüttelte Kirche, die Opfer, aber auch die Täter betete: «Lass sie ihre Schuld erkennen und hilf ihnen, sich ernsthaft um Wiedergutmachung zu bemühen.»

Bei der Gemeinde kam gut an, dass der Missbrauchsskandal angesprochen wurde. «Gut, dass man sich traut», sagt eine Kirchengängerin.

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Herz-Jesu Kirche in Brig VS, 10 bis 11 Uhr

Einen Monat fiel der Pfarrer von Brig VS, Edi Arnold (57), wegen einer Operation aus. An der ersten Hauptmesse nach seiner Rückkehr am Sonntagmorgen um 10 Uhr wollte er unbedingt dabei sein. Die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche prägen den Gottesdienst. «Busse ist angesagt», richtete Pfarrer Arnold gleich zu Beginn das Wort an die rund 140 Anwesenden in der Herz-Jesu Kirche in Brig VS.

«Es ist nicht alles heil in unserer Welt, auch in unserer Kirche nicht.» Arnold nahm die «vielen Opfer dieses Missbrauchs» in die Gebete auf.

Wenn er in den letzten Tagen das Gesicht des Walliser Bischofs Jean-Marie Lovey (73) gesehen habe, spüre er, wie sehr dieser mitleide mit den Opfern. «Wie viele hat er schon angehört in Gesprächen. Und wie sehr leidet er auch an den schweren Vergehen von Mitbrüdern, die schwere Schuld auf sich geladen haben, und wie sehr leidet er auch an allem, was in der bisherigen Aufarbeitung nicht gestimmt hat», so Arnold. Anzumerken gilt es zu Lovey, dass derzeit gegen ihn eine Voruntersuchung wegen Vertuschung eines Missbrauchsfalls läuft.

Arnold hofft darauf, dass alles Vertuschte aufgedeckt wird und in der Kirche ein Heilungsprozess stattfinden kann. Neben dem Gebet zum allgemeinen Schuldbekenntnis war deshalb auch die Vergebung ein zentrales Thema: Es folgte eine Lesung aus dem Matthäus-Evangelium über einen König, der seinem Diener einen grossen Schuldenberg erlässt. «Vergeben heisst nicht einfach, das Böse gutheissen. Gott hasst die Sünde, aber er liebt den Sünder», sagte Arnold. Nach der Messe tauscht sich der Pfarrer noch längere Zeit mit den Gläubigen vor der Kirche aus. Es bestand Redebedarf.

Pfarrei St. Marien in Oberwinterthur ZH, 10 bis 11.15 Uhr

«Gott sagt Ja zu uns, trotz unserer Fehler und Schwächen», eröffnete Pfarrer Oliver Stens den Gottesdienst vor den rund 80 Menschen. Die Themen Vergebung, Gnade und Güte zogen sich durch die Predigt. Ob der Pfarrer diesen Schwerpunkt in Bezug auf die offengelegten Missbrauchsfälle gewählt hat, ist schwierig zu sagen. Direkt angesprochen wird das Thema nicht.

Die Gläubigen schienen aber darauf zu warten. Der Satz «Es ist schwierig, die Gestalt der Liebe zu erkennen, wenn ihr Böses widerfährt» liess einige aufhorchen. Der Pfarrer ging aber nicht weiter darauf ein und appellierte dafür immer wieder an die Vergebung. Diese müsse nicht immer sofort kommen. Es könne sein, dass ein Mensch im Moment nicht emotional fähig sei, zu vergeben. Da solle man im Gebet darum bitten, dass der Zeitpunkt der Vergebung bald komme.

Der Pfarrer liess viel Raum für Interpretation. Zu viel für manche Besucher. Eine Frau nahm sich den Pfarrer direkt nach der Messe zur Brust. Sie ist mit dem Inhalt der Messe unzufrieden und hätte sich eine konkrete Adressierung gewünscht. «Ich überlege mir, auszutreten», hörte man sie sagen. Der Pfarrer selbst verliess danach den Anlass relativ schnell. Ob er an einem anderen, gewöhnlicheren Sonntag vielleicht auch zum angekündigten Apéro geblieben wäre?

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Kathedrale Sankt Mariä Himmelfahrt in Chur GR, 10 bis 11.20 Uhr

Um 10 Uhr ging Dompfarrer Gion-Luzi Bühler mit drei Ministrantinnen zum Altar hin. Die Kathedrale Sankt Mariä Himmelfahrt war sehr gut gefüllt, viele junge Menschen haben sich zur Eucharistiefeier versammelt.

«In dieser Woche hat die katholische Kirche viel an Kredit verloren», begann Pfarrer Bühler die Messe. Jeder und jedem ist klar, was der Geistliche ansprach.

Es wird viel über Sünde, Busse und Vergebung gesprochen. Gebetet, gesungen, besinnt. Dann war es Zeit für die Predigt. «Meine Schwestern und Brüder, was soll ich Ihnen heute in dieser Predigt nach dieser katastrophalen Woche sagen?», begann Bühler. Er erinnerte sich an einen Satz von Benedikt XVI., Joseph Ratzinger (†95), der 2005 sagte: «Wie viel Schmutz gibt es in der Kirche und gerade auch unter denen, die im Priestertum ihm ganz zugehören sollten!»

Er sei sich nicht sicher gewesen, ob er die Missbrauchsskandale in seiner Predigt erwähnen solle. «Hätten Sie dann nicht einfach gedacht ‹das ist wieder typisch, es wird schöngeredet und verharmlost›, wenn ich einfach um Vergebung gebeten hätte?» Totenstille.

Der Pfarrer sprach minutenlang über geweihte Hände, die Segen hätten bringen müssen, jedoch entwürdigt und verwundet haben. Darüber, dass eine Strukturveränderung in der Kirche, beispielsweise eine Abschaffung des Zölibats, doch nicht den Charakter eines Menschen verändern würde. «Wir Priester müssen wieder anfangen, die Worte Gottes ernst zunehmen und uns bewusst werden, dass wir bei der Priesterweihe entschieden haben, dem Herrn zu gehören.» Es war eine offene und emotionale Predigt.

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Klosterkirche von Einsiedeln SZ, 11 bis 12 Uhr

In der prunkvollen Klosterkirche von Einsiedeln redete Pater Theo Flury (68) während der Spätmesse um 11 Uhr nicht um den heissen Brei herum. Der Priester sagte vor der gut gefüllten Klosterkirche Einsiedeln und zwei Ministranten: «Die Männer haben auf unbeherrschte Art und Weise mit ihren Taten die Berufung und Mission als Priester verraten.» Er nannte das Delikt beim Namen und sprach von sexuellen Übergriffen.

Er versuchte aber auch, die Wut der Gläubigen gegenüber den Tätern zu mildern: «Unsere Gedanken, wenigstens die meinen, sind auch zu den Tätern gegangen.» Er betont, dass es die katholische Kirche selbst gewesen ist, welche die Studie in Auftrag gegeben hatte. Und dass lange nicht alle Priester Täter sind.

Dann tönt er die Rolle der Priester an: «Wir sind angewiesen, dass uns die Gläubigen helfen, dass wir uns getragen fühlen.» Die Situation von manchen Priestern sei nicht einfach. Pater Theo erklärt weiter in der Predigt: «Der Priester wohnt alleine im Pfarrhaus, er kann seine Sorgen und Freuden mit niemandem teilen. Schliessen wir also Opfer, Priester und die Täter in unsere Gebete mit ein.»

Die gut 150 Besucher der Messe, so gut wie alle im Rentenalter, hören aufmerksam zu. Zwei Seniorinnen sagen zu Blick: «Pater Theo hat das Thema in der Messe zwar recht offen angesprochen. Aber ob sich jetzt etwas ändert, glaube ich nicht. Wir können nur den Heiligen Geist anrufen, dass er die Bischöfe beflügelt. Es muss sich einiges ändern. Und die Täter müssen bestraft werden.»

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