Die Nachricht erreichte Pfarrer Edwin Stier (60) auf einer Wallfahrt in Süddeutschland. Er war gerade im Kloster Beuron, als auf seinem Handy die Schlagzeilen aufleuchteten: Sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche, über 1000 Opfer. Sie trafen ihn wie ein bleischwerer Hammer. Er sagt: «Ich war tief erschüttert.»
Pfarrer Stier tat das, was er in Krisensituationen oft tut: Er zog sich in die Stille zurück. Wollte im Gebet mit seinem Herrgott sprechen. In der Klosterkapelle blickte er auf das Bild von Maria mit dem gemarterten Christus auf dem Schoss – die Pietà. Sie steht für Maria, die leidet, weil ihr Sohn Jesus so schwer misshandelt und getötet wurde. Und er dachte an Jesus' Worte: Was du dem Kleinsten getan hast, hast du mir getan. Die Kleinsten, das sind für ihn all die Opfer.
Er will angemessen reagieren
Seit 25 Jahren ist der gebürtige Süddeutsche katholischer Priester, seit 2020 im Pastoralraum Kreuzlingen im Thurgau. Im August begleiteten wir ihn auf seiner Reise nach Kroatien, weil er einer aus der Schweiz ausgeschafften burundischen Grossfamilie helfen wollte. Damals überlegte er nicht lange, handelte sofort. Nun, am Dienstag, wollte er in der Stille nachdenken: Wie kann ich in dieser Situation ein guter Priester sein? Wie reagiere ich richtig? «Nicht, dass ich noch Verletzungen begehe, weil ich nicht angemessen über den Missbrauch spreche», sagt er.
Pfarrer Stier kennt das Thema seit Jahren. Eine junge Frau vertraute sich ihm einst an. Sie war als Kind innerhalb der Familie missbraucht worden, litt schwer darunter. An sie dachte er in der Kapelle. War ihr dankbar, sagt er. «Durch sie habe ich damals verstanden, was Missbrauch genau mit einem Menschen macht.»
Seit dieser Frau ist er sensibler für das Thema. Spricht es aktiv an. In der Predigt, in persönlichen Gesprächen. Nie aufdringlich, immer subtil, manchmal durch kleine Andeutungen. «Es braucht Fingerspitzengefühl», sagt er. Und die Leute öffnen sich. Darunter auch mal ein älterer Mann, der als Jugendlicher einen sexuellen Übergriff von einem Priester erlebt hat.
Am Sonntag macht er den Missbrauch zum Thema
Nach den Enthüllungen steht für Pfarrer Stier nun fest: «Jetzt geht es erstmal um die Opfer.» Sie sollten Gerechtigkeit und Unterstützung erfahren. Und die Täter müssten zur Rechenschaft gezogen werden. «Die Kirche muss sich reinigen.» Verantwortung übernehmen. Auch im Lokalen. Im Pastoralraum Kreuzlingen will man künftig mehr auf Prävention setzen. Bald soll es Schulungen zum Thema sexuelle Gewalt geben, die allen Gläubigen offen stehen.
Doch nun steht erst einmal der Sonntag an. Der Gottesdienst am Buss- und Bettag. Dann wird sich zeigen, was die Sache mit der ganzen Gemeinde macht. In den letzten Tagen kamen immer wieder Gläubige zu Pfarrer Stier. Sie sind enttäuscht. So wie Pfarrer Stier selbst auch, doch er will Verantwortung übernehmen, wie er ankündigt: «Ich werde als Vertreter der Kirche um Verzeihung bitten.» Und er will nach dem Gottesdienst für die Menschen da sein. Im Gespräch. Im Gebet.