In der katholischen Kirche in der Schweiz hat es zwischen 1950 und heute mindestens 1002 Fälle sexuellen Missbrauchs gegeben – zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Universität Zürich. Doch die Dunkelziffer ist hoch. Denn viele Betroffene trauten sich nicht, den Übergriff zu melden. Ausserdem wurden viele Akten vernichtet. «Bei den identifizierten Fällen handelt es sich zweifellos nur um die Spitze des Eisbergs», sagen die Historikerinnen Monika Dommann und Marietta Meier.
Der Studie der Uni Zürich geht es um problematische Grenzüberschreitungen, aber auch um «schwerste, systematische Missbräuche, die über Jahre hinweg andauerten».
Gezielte Vernichtung von Akten
Bei der Pilotstudie handelt es sich um einen ersten Schritt. In den nächsten Jahren sollen weitere Details ans Licht kommen. Es geht auch um die Vertuschung durch die Verantwortlichen. «In vielen Fällen wurde sexueller Missbrauch ausgesessen, Beschuldigte versetzt sowie Betroffene und Mitwissende zum Schweigen verpflichtet. Dadurch nahmen Verantwortliche der Kirche in Kauf, dass es zu weiteren Fällen sexuellen Missbrauchs kam», kritisiert das Forschungsteam.
Auch Akten seien gezielt vernichtet worden. In der Diözese Sitten etwa wurden «nachweislich regelmässig Akten des Geheimarchivs vernichtet» – denn das Kirchenrecht schreibt genau das vor. Im Bistum Lugano gab es den Befehl, «das zu verbrennen, was sich in den Schubladen des Bischofs über die Priester befand».
Die Pilotstudie kritisiert zahlreiche Würdenträger. Die bekanntesten sind:
Kardinal Kurt Koch (73)
Kurt Koch war 1995 bis 2010 Bischof von Basel und ist seitdem Kardinal in Rom. Er ist der mächtigste Schweizer Kirchenmann. Die Uni Zürich wirft Koch vor, weder die Staatsanwaltschaft noch Rom über einen problematischen Priester informiert zu haben. Der Priester K. S. habe «Minderjährige in die Sauna eingeladen und sie aufgefordert, sich im Rahmen von Jugendgruppenausflügen öffentlich auszuziehen», hält die Uni Zürich fest. Koch wäre verpflichtet gewesen, «die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft zur Kenntnis zu bringen» und ein kirchliches Verfahren einzuleiten.
Bischof Markus Büchel (74)
Der Bischof von St. Gallen soll nicht konsequent genug gegen einen Missbrauchstäter vorgegangen sein. Zwar lobt die Uni Zürich das Bistum St. Gallen dafür, dass es relativ früh ein Fachgremium für Präventionsarbeit einsetzte. Doch bei der Umsetzung haperte es, wie der Fall von «Pfarrer Tätscheli» zeigt: Er soll Heimkinder gezwungen haben, sich mit ihm ins Bett zu legen. Das Fachgremium schlug Alarm und kritisierte 2010 Bischof Markus Büchel: «Wir müssen heute feststellen, dass die Bistumsleitung keine der empfohlenen Massnahmen ergriffen hat.» Laut der Uni Zürich feiert der Priester nach wie vor Messen.
Bischof Charles Morerod (61)
Der Bischof von Lausanne, Genf und Freiburg wird in einer kircheninternen Anzeige wegen Vertuschung belastet, wie SonntagsBlick enthüllte. Auch das Gutachten der Uni Zürich stellt kritische Fragen. So soll Morerod eine Kommission für Präventionsarbeit abgeschafft haben. Dies führte dazu, dass es zwischen 2012 und 2016 «keine auf Fragen des sexuellen Missbrauchs spezialisierte Instanz» gegeben habe.
Erzbischof Wolfgang Haas (75)
Haas war von 1990 bis 1997 Bischof von Chur, seit 1997 ist er Erzbischof von Vaduz. Die Uni Zürich erhebt folgenden Vorwurf: «Bei der Priesterausbildung und -auswahl setzte er seine eigenen Kriterien ohne Rücksicht durch. Diese bestanden darin, möglichst viele und möglichst konservative junge Priester zu weihen – auch solche, die von den in der Priesterausbildung Verantwortlichen als nicht geeignet zum Priesterberuf erachtet wurden.» Recherchen von SonntagsBlick zeigen, dass Haas auch einen Missbrauchstäter im Bistum Chur beschäftigte, obwohl es massive Bedenken gab.
Bischof Vitus Huonder (81)
Der ehemalige Bischof von Chur hat die Priesterausbildung in Chur problematisch umgestaltet: Ende der 1990er-Jahre seien mit angehenden Priestern Themen wie Sexualität besprochen und psychologische Gutachten zur Eignung von Kandidaten erstellt worden. Unter Huonders Amtszeit sei diese Praxis abgeschafft worden. Und laut Zeugenaussagen, auf die sich die Uni Zürich stützt, soll Huonder «regelmässig in seinem Büro Akten unbekannten Inhalts geschreddert» haben.
Erzbischof Martin Krebs (66)
Der Vatikan-Botschafter vertritt die Interessen des Papstes in Bern. Sein offizieller Titel lautet: Apostolischer Nuntius. Der päpstliche Gesandte verhält sich laut der Uni Zürich unkooperativ: Das Archiv der Nuntiatur war für das Forschungsteam nicht zugänglich. «Aufgrund von Bedenken bezüglich des diplomatischen Schutzes der Nuntiatur wurde die Anfrage des Forschungsteams negativ beantwortet», hält die Studie der Uni Zürich fest.
Ordensgemeinschaften stellen sich quer
Ordensgemeinschaften wie etwa die Salesianer verhalten sich laut der Uni Zürich sehr unkooperativ: «Auch für die wissenschaftliche Forschung gehören die fehlende Kooperationsbereitschaft der Orden und der schwierige Zugang zu den privaten Institutionsarchiven zu den grössten Hindernissen bei der Untersuchung von Fällen sexuellen Missbrauchs.»
Auch weitere Würdenträger kommen wegen Vertuschungsvorwürfen unter Druck. Recherchen des «Beobachters» belasten Bischof Felix Gmür (57).
Die Studie der Uni Zürich, die Vorwürfe des Whistleblowers Nicolas Betticher und Recherchen von Medienschaffenden zeigen: Die katholische Kirche hat es trotz vieler Bemühungen nicht geschafft, die Präventionsarbeit schweizweit zu professionalisieren. Vertuschung ist kein Problem der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart. Der Schutz der Institution war der Kirche wichtiger als die Aufklärung von Fällen. Es wird noch lange dauern, um das dunkelste Kapitel der katholischen Kirche in der Schweiz aufzuklären.
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