In der katholischen Peterskapelle der Stadt Luzern, links neben dem schwarz-weissen Marmoraltar, vor einem lebensgrossen Wandgemälde, das Jesus betend in einem roten Gewand zeigt, liegt sie auf einem einfachen Holztisch: die heilige Schrift mit dem Titel «Die Queerbibel – Gott liebt vielfältig. Wir auch.» Diese Bibel wurde vom römisch-katholischen Theologen und Leiter der Peterskapelle, Meinrad Furrer (58), mitinitiiert.
Bekanntes neu erzählen
Das Projekt hat er zusammen mit Mentari Baumann (28) angestossen. Sie ist Leiterin der Allianz «gleichwürdig katholisch». Furrer sagt: «Es geht nicht darum, neue Geschichten zu erfinden, sondern biblische Geschichten neu zu erzählen, so dass sie für alle Lebensformen zugänglich werden.» Konkret sieht das so aus: Zu den ausgewählten Passagen in der Heiligen Schrift legen Furrer und Mentari zusätzliche Seiten mit einer neuen Interpretation in die Bibel. Der Text wird nicht verändert, sondern ergänzt.
Geschichten wie diejenige vom Königssohn Jonathan und dem jungen Schafhirten David. In der Schlacht zwischen Israel und den Philistern traute sich kein Soldat des Königs gegen Goliath anzutreten – den stärksten Krieger der Philister. David meldete sich und bezwang den Hünen mit einem gezielten Steinschleuder-Wurf. Durch diese Heldentat kam der einfache Schafhirte an den Königshof, wo er Jonathan kennenlernte. Es entwickelte sich eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden. Jonathan liebte der Bibel zufolge David so wie sein eigenes Leben, weil er von ihm und seinem unerschütterlichen Glauben an Gott beeindruckt gewesen war.
Passagen wie diese, die von Liebe und Loyalität handeln, werden in der Queerbibel analysiert. Waren Jonathan und David schwul? Furrer: «Wir sagen nicht, das waren homosexuelle Beziehungen, aber wir sagen, diese Texte haben viel Inspirationspotenzial für queere Identitäten.» Die Bibel sei bisher oft dazu benutzt worden, um gleichgeschlechtliche Liebe zu verurteilen. Zu Unrecht, sagt Furrer: «Insgesamt gibt es vielleicht fünf Passagen in der Bibel, die queer-feindlich gelesen werden können.» Drei Texte von Paulus gehören dazu, sagt Furrer. Diese werden in der neuen Auslegung der Heiligen Schrift auch thematisiert. Der 58-Jährige erklärt: «Diese Texte wurden in der Queerbibel mit einem Brief an Paulus ergänzt. Darin stellen wir Fragen zu einzelnen Aussagen, die er gemacht hat.» Meinrad Furrer sieht sein Vorgehen, die Bibel neu zu interpretieren, ganz in der biblischen Tradition. «Diese Bücher sind alle über mehrere Jahrhunderte entstanden, mit immer neuen Interpretationsgeschichten.»
«Negative Rückmeldungen erhalte ich ausschliesslich schriftlich»
Furrers Projekt wird von der katholischen Kirche der Stadt Luzern unterstützt. Die Kirchengemeinde der Stadt Luzern sei sich sehr bewusst, dass insbesondere junge Menschen gewisse Standpunkte der katholischen Kirche nicht mehr akzeptieren. «Gleiche Würde und gleiche Rechte für alle gehören zu den Grundwerten der Kirchengemeinde der Stadt Luzern», sagt der Theologe.
Er hat viele Rückmeldungen zum Projekt erhalten. Mehrheitlich seien die Menschen interessiert. Davon zeugen auch die wohlwollenden Einträge im Gästebuch der ältesten Kapelle der Stadt Luzern. Gleichzeitig merke er, dass er manche Gläubige vor den Kopf stosse. «Negative Rückmeldungen erhalte ich ausschliesslich schriftlich», sagt Furrer. Die Kritiker würden sich nicht mit dem Thema beschäftigen, es gehe ihnen darum, zu sagen, «es passiert hier etwas, was verboten ist». Er würde sich einen Dialog mit diesen Menschen wünschen, die in der Peterskapelle weiterhin willkommen seien. Eine Rückmeldung zu seinem Projekt hat Furrer bisher weder von der Schweizer Bischofskonferenz noch aus dem Vatikan erhalten. Auf Anfrage hat die Schweizer Bischofskonferenz mitgeteilt, dass sie derzeit keine Stellungnahme «zu diesem Thema» gibt. Furrer rechnet nicht mit einer Rüge.
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