Frau Schutzbach, das Basler Appellationsgericht senkte das Strafmass für einen Vergewaltiger mit der Begründung, der Übergriff sei relativ kurz gewesen. Auch sei unklar, wie sehr das Opfer heute noch darunter leide, da es nicht in Therapie sei. Was geht Ihnen da durch den Kopf?
Franziska Schutzbach: Diese Aussagen beruhen auf der sehr fragwürdigen Annahme, dass sich ein Gewaltopfer auf bestimmte Weise verhalten muss und Frauen alle gleich auf eine Vergewaltigung reagieren.
Das ist aber nicht der Fall.
Nein, sie reagieren sehr verschieden – die einen brauchen therapeutische Hilfe, andere wollen genau das nicht und kommen besser klar, wenn sie Dinge verdrängen. Tritt eine Frau stark auf, ist das vielleicht also gerade eine Überlebensstrategie. Das müssten Richterinnen und Richter eigentlich wissen.
Die wortführende Richterin verwies auch auf «Signale, die das Opfer auf Männer aussendete». Die Frau habe mit dem Feuer gespielt, weil sie, bevor der Übergriff passierte, mit einem anderen Mann intim geworden war.
Diese Aussagen sind sehr problematisch – und exemplarisch. In ihnen stecken verbreitete Mythen über sexualisierte Gewalt. Sie attestieren, wenn auch vielleicht ungewollt, dem Opfer eine Mitschuld. Der Subtext ist: Das Verhalten der Frau provozierte die Vergewaltigung.
Aber ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Gericht eine solche Auffassung vertritt?
Unser Strafgesetz ermöglicht, dass das Verschulden eines Täters kleiner eingestuft wird, wenn das Opfer ihn «provoziert» hat. Das Gericht kann die Strafe mildern, wenn – ich zitiere aus Artikel 48 im Strafgesetzbuch – «der Täter durch das Verhalten der verletzten Person ernsthaft in Versuchung geführt worden ist». Es ist bekannt, dass dies in Sexualstrafprozessen fatalerweise dazu führt, dass das Opfer oft für die Tat zumindest mitverantwortlich gemacht wird. Man sollte von einem modernen Land und Kanton erwarten, dass das Gerichtspersonal zu solchen Fragen ausgebildet ist und begreift, dass das Strafrecht in solchen Fällen nicht als Mitschuld des Opfers ausgelegt werden darf.
Franziska Schutzbach (43) ist Soziologin und Geschlechterforscherin und lehrt unter anderem an der Universität Basel im Bereich Gender Studies. Schutzbach war 2016 Mitinitiantin des Twitter-Hashtags #SchweizerAufschrei, der eine breite öffentliche Debatte über sexualisierte Gewalt und sexuelle Belästigung in der Schweiz auslöste.
Franziska Schutzbach (43) ist Soziologin und Geschlechterforscherin und lehrt unter anderem an der Universität Basel im Bereich Gender Studies. Schutzbach war 2016 Mitinitiantin des Twitter-Hashtags #SchweizerAufschrei, der eine breite öffentliche Debatte über sexualisierte Gewalt und sexuelle Belästigung in der Schweiz auslöste.
Bemerkenswert ist, dass mit der Gerichtspräsidentin ausgerechnet eine Frau solche Aussagen macht.
Auch Frauen haben Sexismus verinnerlicht. Oft stehen sie nicht gegen Frauenfeindlichkeit ein, weil es ihnen nützt, in einer an Männern und am Männlichen orientierten Gesellschaft dem Patriarchat zuzuarbeiten. Ich will das gar nicht nur kritisieren, wir alle sind Teil davon. Es braucht viel Sensibilität, um den eigenen Sexismus zu erkennen.
Aber wie kommt es, dass oft gerade Frauen besonders hart übereinander urteilen?
Wir wissen aus Studien, dass Frauen – anders als Männer untereinander – häufig eine sehr schlechte Meinung von ihren Geschlechtsgenossinnen haben. Sie reproduzieren damit die weitverbreitete Grundsympathie für Männer und das Männliche. Diese zeigt sich gerade auch in Sexualstrafprozessen, wo es, wie US-amerikanische Studien zeigen, seitens der Geschworenen oft mehr Sympathie und Mitleid mit den Tätern als mit den Opfern gibt.
Mittlerweile hat das Gericht eine Stellungnahme veröffentlicht. Um das Verschulden zu bemessen, werde jeweils geprüft, wie der Täter die Situation interpretiert hat. Es gehe dabei nicht darum, das Opfer zu disqualifizieren.
Aber genau das ist passiert. Dahinter muss keine böse Absicht stecken. Hier zeigt sich einfach, dass Vergewaltigungsmythen nicht nur in der juristischen Praxis noch verankert sind, sondern wir sie alle verinnerlicht haben – auch die Richterin.
Was genau sind Vergewaltigungsmythen?
Zum Beispiel eben die Vorstellung, dass Frauen Übergriffe provozieren – durch Kleider oder ihr Verhalten, und Männer ihnen nicht widerstehen können, sie den weiblichen Reizen hilflos ausgeliefert und deshalb selber schutzbedürftig sind. Diese Vorstellung entstand im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Der Mann galt als eine Art Dampfkessel, der unter ständigem sexuellem Druck steht und sich nicht beherrschen kann. Aus dieser Zeit stammt auch die Idee, dass Frauen sich nicht zu aufreizend kleiden oder verhalten dürfen. Diese uralte, frauenfeindliche Ideologie setzt sich bis heute fort.
Mit Folgen.
Es ist erwiesen, dass Männer eher Gewalt anwenden, wenn sie solche Mythen glauben – also zum Beispiel der Meinung sind, dass Frauen, die sexy gekleidet sind, es darauf abgesehen haben, angefasst zu werden.
Viele Männer sagen, sie wüssten gar nicht mehr, wie sie sich sexuell verhalten sollen.
Die meisten befassen sich gar nicht ernsthaft damit. Dabei ist es nicht so schwer. Man kann sich fragen: Würde ich wollen, dass sich ein Mann gegenüber meiner Mutter, Schwester, Freundin so benimmt? Das ist oft ein hilfreiches Barometer um sich klar zu werden, ob man sich grenzverletzend benimmt.
Was bedeutet das Basler Urteil für Opfer sexueller Übergriffe?
Die Aussagen, die die Richterin gemacht hat, sind ein fatales Signal. Gut möglich, dass deswegen Übergriffe nicht anzeigt werden. Das darf nicht sein. Wir müssen eine Kultur schaffen, in der Opfer sich trauen, gegen Täter vorzugehen.
Was ist vonnöten, dass es gar nicht erst zu Übergriffen kommt?
Gleichstellung und Aufklärung. Leider verhindern rechtskonservative Kräfte immer wieder, dass es zum Beispiel fortschrittlichen Sexualkundeunterricht an Schulen gibt, wo Kinder und Jugendliche mehr als oberflächliche Fakten über Geschlechtsorgane lernen. Es braucht Wissen über Machtstrukturen, Rollenprägung, Sexualität, Gewalt und darüber, was Konsens ist.
2020 vergewaltigte João P.* (32, r.) mit einem Kollegen eine 33-Jährige an der Basler Elsässerstrasse. Gegen seine Verurteilung legte er Berufung ein, weshalb das Appellationsgericht den Fall erneut aufrollte. Dieses reduzierte das Strafmass unter Gerichtspräsidentin Liselotte Henz (FDP) erheblich. * Name geändert
2020 vergewaltigte João P.* (32, r.) mit einem Kollegen eine 33-Jährige an der Basler Elsässerstrasse. Gegen seine Verurteilung legte er Berufung ein, weshalb das Appellationsgericht den Fall erneut aufrollte. Dieses reduzierte das Strafmass unter Gerichtspräsidentin Liselotte Henz (FDP) erheblich. * Name geändert