Die meisten bleiben stumm. Opfer von sexueller Gewalt sind oft schwer traumatisiert und haben Mühe, über das Vorgefallene zu sprechen. Nur in den wenigsten Fällen kommt es zu einer Anzeige, noch seltener zu einer Gerichtsverhandlung. Lediglich acht Prozent der Sexualdelikte werden überhaupt angezeigt.
Das geht aus einer aktuellen Studie des Forschungsinstituts gfs.bern hervor. Demnach hat hierzulande jede fünfte Frau ab 16 Jahren ungewollte sexuelle Handlungen erlebt. Hochgerechnet sind es 800'000 Frauen. Und bei jeder achten Frau kam es zu einer Vergewaltigung, also bei 440'000.
Opfer fallen in Schockstarre, eine Art Selbstschutz
Warum kommt es so selten zu Strafanzeigen? «In unserer Gesellschaft herrscht noch immer ein stereotypes Bild von sexueller Gewalt vor: vom fremden Täter, der über eine Frau herfällt, sie wehrt sich mit aller Kraft, hat Verletzungsspuren und geht umgehend zur Polizei», erklärt Agota Lavoyer (39), stellvertretende Leiterin von Lantana, der Berner Opferhilfestelle bei sexueller Gewalt. Die Realität sei aber eine ganz andere: In den meisten Fällen ist der Täter bekannt, und es besteht ein Vertrauensverhältnis. Der Übergriff geschehe häufig in zunächst harmlosen Momenten.
«Aus der Traumapsychologie weiss man, dass Opfer oft in eine Schockstarre oder Lähmung fallen», sagt Lavoyer. Eine natürliche Reaktion des Körpers, eine Art Selbstschutz. «Deshalb gibt es nur in wenigen Fällen eine körperliche Gegenwehr. So muss der Täter keine Gewalt anwenden.» Das geltende Gesetz geht aber noch auf Moralvorstellungen aus dem vorletzten Jahrhundert zurück: Wer sich nicht mit Händen und Füssen wehrt oder nachweisen kann, dass psychisch Druck aufgesetzt wurde, hat später keine Handhabe. Das Übergehen eines mehrfachen, klaren «Nein, ich will nicht» reicht nicht, damit ein Täter wegen sexueller Nötigung oder Vergewaltigung verurteilt werden kann. «Ohne Gewalt oder Drohung ist das, was wir landläufig Vergewaltigung nennen, juristisch keine Vergewaltigung. Das ist verheerend.» Und es soll sich endlich ändern.
Gefordert wird, was selbstverständlich sein sollte
Ein Jahr nach dem Frauenstreik vom 14. Juni 2019 lancieren jetzt über 50 Organisationen und 130 Persönlichkeiten aus Justiz, Politik und Kultur einen Appell für ein «zeitgemässes Sexualstrafrecht». Sie rufen zu einer raschen und umfassenden Gesetzesreform in der Schweiz auf, die einen besseren Schutz vor sexueller Gewalt garantieren soll.
Gefordert wird, was längst selbstverständlich sein sollte: Sexuelle Handlungen sollen nur stattfinden, wenn alle Beteiligten einverstanden sind. Unterstützung für die Reform gibt es inzwischen auch vom Bundesrat.