Peter Feigl kann noch immer lachen. Trotz allem. Der 93-Jährige, Anzug und Krawatte, gepflegtes Deutsch, ist wieder in dem Land, in das er sich vor genau 80 Jahren retten konnte: «Ich wäre heute nicht hier, hätte es nicht Menschen gegeben, die das Richtige getan haben. Menschen, die ein Unrecht gesehen haben und sich fürs Richtige einsetzten.»
Geboren 1929 als Einzelkind in Berlin, der Vater Wiener, die Mutter Deutsche, beide nicht praktizierende Juden, flohen Peter Feigl und seine Familie nach dem «Anschluss» Österreichs 1938 vor den Nazis von Wien über Belgien nach Frankreich.
Nach Stationen in französischen Gefangenenlagern wurden die Eltern im Sommer 1942 von der Vichy-Regierung verraten, die mit den Nazis kollaborierte, und im Konvoi Nummer 28 nach Auschwitz deportiert. «Meine Mutter wurde bei Ankunft vergast. Mein Vater hat einen Monat überlebt», sagt Feigl heute.
Er selbst war damals 13 Jahre alt. Es begann eine Zeit des Versteckens. Mit Hilfe von Quäkern gelangte er nach Le Chambon-sur-Lignon, einem kleinen protestantischen Dorf, dessen Einwohner fast 5000 Geflüchtete versteckt hielten, darunter 3500 Juden. Dort erhielt Feigl einen falschen französischen Namen: Pierre Feucon. Mit vier anderen Schülern wurde er an ein Collège geschickt, dessen Leiter informiert war, dass er da keine gebürtigen Franzosen unterrichtete.
Seit den Neunzigern klärt Feigl als Zeitzeuge Schüler über den Holocaust auf: in den USA, in die er damals ausgewandert ist, und weltweit. Gerade ist er mit der Spielberg-Foundation auf Besuch in der alten Heimat. Der Jugend erklärt er offen, wie oft im Leben er «Schwein hatte». Wie ihn etwa ein Gendarm warnte, dass er in der Nacht von der Gestapo verhaftet werden soll. «Das ist nicht etwas, was man leicht tut. Der Mann riskierte nicht nur seinen Job, der riskierte damit sein Leben», sagt Feigl. «Und dies zu einer Zeit, in der Bauern einen Sack Kartoffeln gegen eine Golduhr tauschten.»
Als in Le Chambon-sur-Lignon alle Buben und Männer zwischen 16 und 54 Jahren den Befehl erhielten, beim Bürgermeister zu erscheinen, um in die Zwangsarbeit eingegliedert zu werden, «wusste ich, dass ich mich verstecken musste». 24 Stunden verbarg er sich im Glockenturm der Kirche. «Als ich runterkam, waren meine vier Mitschüler verschwunden.»
Der jüdische Untergrund kontaktierte Feigl und ermahnte ihn, er müsse sofort weg. Er solle nach Lyon, und von dort mit anderen weiter. «Ich wusste nicht, dass ich in die Schweiz gebracht werden soll», erzählt er.
Wie haben Sie sich gerettet?
«Als die französischen und deutschen Grenzwachen ausgetauscht wurden, kletterten wir über den Stacheldraht und rannten ins Niemandsland. Auf der Schweizer Seite stand ein Soldat. Meine Begleiterin hielt ihn für einen von der Wehrmacht. Aber ich erkannte sofort den Helm: Das war kein Deutscher. Und ich habe noch nie einen Deutschen gesehen, der die Arme so verschränkt hielt und sein Gewehr trug wie eine Statue. Der Schweizer Soldat liess uns passieren, ohne sich zu bewegen. Als wir an ihm vorbei waren, meinte er nur, wir sollten schnell hinter das Wachhaus. Wir wurden dann auf Lastwagen verladen und kamen nach Genf. Die Schweizer haben uns zugewinkt und waren sehr freundlich. Die Schweiz hat mich gerettet.»
Wussten Sie zu dem Zeitpunkt bereits, dass das Ihre Rettung war?
«Bevor ich von den Behörden verhört wurde, flüsterte mir jemand ins Ohr, ich solle vorsichtig sein, sonst würde ich wieder zurückgeschickt. Aber während des Verhörs zeigte ich meinen Taufschein, als Kind wurde ich zur Sicherheit von den Eltern katholisch getauft, und als die Beamten mich als Katholik identifizierten, sagten sie: ‹Bienvenue en Suisse!›»
Nach Jahren in Bern und an die École d’Humanité in Schwarzsee FR stand er vor der Wahl, nach dem Krieg nach «Palästina, England oder New York» zu gehen. Feigl: «Nur New York wurde nie bombardiert. Also entschied ich mich für die USA.»
So wurde er Amerikaner, trat mit 18 in die Air Force ein. Im US-Verteidigungsministerium brachte er es als Zivilist bis zum Rang eines Zweisternegenerals. Und revanchierte sich bei der Schweiz für die Rettung auf sehr amerikanische Art: In Form von Geschäften. «Ich habe an die Schweiz M113-Panzer, Kanonen und F-5-Kampfflugzeuge verkauft. Und ich beriet den damaligen Schweizer Rüstungschef, wie er für das Land am besten und allergünstigsten in den USA einkaufen konnte.»
Sie als Zeitzeuge von damals: Was bereitet Ihnen heute Sorgen?
«Die Geschichte wiederholt sich immer aufs Neue. Ich erlebe gerade die Dreissigerjahre wieder. Wenn man die Hitlerzeit anschaut, herrschten damals wie heute Inflation und Arbeitslosigkeit, dann kam ein Führer mit den Lösungen aller Probleme. Maul halten, marschieren und man wird in eine schöne Uniform gesteckt, bekommt einen Job. Und dann gehts vorgeblich darum, irgendwo irgendwelche deutschsprachigen Minderheiten zu beschützen. Das geht so, bis es zum Krieg kommt.»
Wie erkennen Sie diese Tendenzen?
«Ich sehe Putin, der angeblich russischsprachige Minderheiten in der Ukraine befreien will. Auch wenn Leute wie Trump oder Orban ans Ruder kommen, hört sich das für mich alles sehr bekannt und gefährlich an. Und schnell werden wieder Sündenböcke gesucht. Wie damals die Juden in Deutschland.»
Wer sind die Sündenböcke von heute?
«Die Muslime werden zu Sündenböcken gemacht. Sie essen nicht wie wir, sie kleiden sich anders, sprechen anders, sie benehmen sich anders. Sie sind die Aussenseiter, und es ist leicht, den Menschen einzureden, dass die Muslime schuld an allem seien.»
Und wie reagiert die Jugend auf Ihre Warnungen, wenn Sie in den Schulen Ihre Vorträge halten?
«In den Schulen gibt es keinen einzigen Schüler, der entweder nicht gemobbt wurde, selber jemanden mobbte oder beim Mobbing zusah. Das nächste Mal, wenn ihr das seht, müsst ihr eingreifen und das stoppen, sage ich den Schülern. Aus zwei Gründen: Erstens ist es das Richtige. Und zweitens: Man könnte selber einmal auf der anderen Seite stehen, und dann bist du froh, wenn sich jemand für dich starkmacht.»
Welche Wünsche haben Sie noch, für sich und für die Menschheit?
«Dass wir die Geschichte nicht vergessen, und dass die Menschen daraus lernen und verstehen. Und ich wünsche mir Vernunft. Dass die Menschen begreifen, dass alle Menschen zuerst und vor allem Menschen sind. Wie es in der Bibel steht: Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andern zu.»