Erich Gysling, ein weiser alter weisser Mann, sagte im Interview mit der «Sonntags-Zeitung»: «Der Westen glaubt, er stehe für gute Werte. Vielerorts sieht man das ganz anders.»
Worauf läuft diese Formulierung hinaus? Auf die Werte des Westens? Auf westliche Werte?
Wären Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – also die Werte, die den westlichen Gesellschaften zugrunde liegen – westliche Werte, gäbe es, beispielsweise, auch östliche Werte. Oder, wie gerade raumgreifend fabuliert wird, die Werte des «globalen Südens», eine Formel für Weltgegenden, die dem Westen ablehnend gegenüberstehen, ja «seine Werte» als kolonialistisch schmähen.
Die grün-linke Kulturelite hat diese Formel ersonnen, als neue Keule gegen die «westliche Moderne», die aus Sicht jener verspäteten Antikolonialisten vor allem Unheil über die Welt gebracht hat: mit der Eroberung und Unterdrückung von zuvor unverdorbenen Kulturen durch die zutiefst verdorbene westliche Zivilisation.
An der «Documenta», der weltgrössten Kunstausstellung in Kassel, wurde dieses urlinke Klischee wieder einmal frisch inszeniert: Der «globale Süden» als Paradies edlen Menschentums im Gegensatz zur nördlich-kapitalistischen Gier-Gesellschaft. Mit antiisraelischer bis antisemitischer Bildsprache sollte eine monumentale Installation aus Indonesien zum Lehrmittel für das neue korrekte Denken werden. Der kleine Satan Israel verkörpert darin – auf die aktuelle Kunst-Formel gebracht und hauswandgross ausgemalt – den grossen Satan USA.
Der böse «globale Norden» aus Sicht des guten «globalen Südens»: Stossen da Werte aufeinander – Kulturen gar?
Wäre es so, wären die Werte Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nur die Werte einer bestimmten Kultur – der westlichen. Daneben jedoch existierten – rund um den Erdball, vor allem eben im «globalen Süden» – nicht minder wertvolle Werte. Zum Beispiel die Werte des kommunistisch-kapitalistischen China. Oder die Werte der islamisch-religiösen Welt.
Unterdrückungskultur, gleichwertig mit Freiheitskultur.
Exakt darauf zielt die Infragestellung der westlichen Wertewelt durch die akademische Kulturlinke: Ihr marxistisches Fortschrittsprojekt ist gescheitert; der Proletarier als Subjekt der Geschichte hat sich verflüchtigt, weil verbürgerlicht; die neu gefundene – erfundene – revolutionäre Klasse lebt im «globalen Süden»; sie macht sich gerade auf, den dekadenten Westen auf der nördlichen Halbkugel zurechtzuweisen und zurechtzustutzen.
Lässt sich die heutige Bürgerschaft darauf ein, ihre Werte zu relativieren, die Generationen von Bürgern in der Geschichte und gerade noch gestern unter gewaltigen Opfern erkämpft haben? Sind die Gebote der Aufklärung lediglich eine Ideologie unter zahllosen anderen, ausschliesslich dazu gedacht, die Macht des Westens über den «globalen Süden» intellektuell und kulturell abzusichern und zu rechtfertigen?
Immanuel Kant (1724–1804), der Philosoph aus Königsberg, begründete das Freiheitsdenken so: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.»
Des Menschen! Also aller Menschen! Nicht allein des westlichen.
Kants Erkenntnisse sind global gültige Erkenntnisse – auch für den «globalen Süden». Welche selbst erfundenen Wertesysteme Diktatoren, autoritäre Regimes und allein selig machende Religionen auch immer errichten mögen.
Kants aufklärerischer Imperativ ist ebenso universal wie die Erkenntnis, dass jeder Mensch als Gleicher geboren wird.
Menschenrechte und Menschenwürde sind universale Werte! Und sie sind politische Sprengsätze für Diktaturen wie das faschistisch geführte Russland oder das kommunistisch geführte China. Faschismus wie Kommunismus sind ideologische Vernichtungswaffen, gerichtet gegen Kants Werte – gegen die Werte der Aufklärung.
Mit der Idealisierung der «Edlen Wilden» aus dem «globalen Süden», die für jungfräuliche Reinheit stehen, tarnt die Rousseau-romantische Linke ihr reaktionäres Revoluzzertum und die Gegenaufklärung als hippe Rebellion gegen die verachtete Bürgerlichkeit.
Die gleiche Romantisierung gilt mittlerweile auch gesellschaftlichen Gruppierungen des Westens selbst: von «Migranten» über «Transmenschen» bis zu «People of Color»: alles «Diverse» wird derzeit als Wert an sich propagiert – und soll seine gesetzlich zementierte Quoten-Repräsentanz erhalten, ob in Politik, Kultur oder Wirtschaft. Gesellschaft der Stämme statt Gleichheit des Einzelnen – des Individuums.
Der hochverehrte Kollege Erich Gysling hat in besagtem Interview noch einen weiteren einprägsamen Satz formuliert: «Wir im Westen glauben immer, die ganze Welt ticke ungefähr so wie wir. Jetzt sehen wir: Das stimmt nicht.»
Weil nicht die ganze Welt tickt wie wir, muss die westliche Welt – die offene Gesellschaft – auch für jene Menschen mitticken, die nicht so leben können, die nicht so leben dürfen wie wir.
Die Freiheitsfahne flattert im Westen – aber sie flattert für alle.