Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Der Faschismus ist die grösste politische Gefahr des 21. Jahrhunderts

Der Putinismus lässt sich nicht mit Hitlers Nationalsozialismus gleichsetzen. Doch ihre Gemeinsamkeiten zu benennen, führt zur Erkenntnis: Der Faschismus ist keine einmalige Verirrung des 20. Jahrhunderts. Er kann jederzeit, in immer neuen Varianten wieder auftauchen.
Publiziert: 01.05.2022 um 12:11 Uhr
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Aktualisiert: 22.11.2022 um 16:07 Uhr
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Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Was ist Faschismus? Natürlich gehört ein fanatischer Nationalismus dazu. Ebenso Gewalt. Da ist vor allem aber auch die Selbstinszenierung des Täters als Opfer, das sich jetzt endlich wehrt. Dabei spielt es keine Rolle, ob ihm tatsächlich irgendein Unrecht widerfahren ist. Im Gegenteil, je abstruser die Lüge vom angeblich erlebten Leid und der eigenen Unschuld, desto brutaler geht der Faschist zu Werk. So gesehen bildet die Lüge den eigentlichen Kern seines Denkens. Sie ist die Batterie, aus der er seine zerstörerische Energie bezieht.

Die grösste und schlimmste solche Lüge war der Antisemitismus der Nationalsozialisten im sogenannten Dritten Reich. Sie brüllten: «Die Juden sind unser Unglück.» Nachdem er den Zweiten Weltkrieg losgetreten hatte, schwor Adolf Hitler seine Getreuen auf den Holocaust ein: «Dieser Krieg wird nicht so ausgehen, wie es sich die Juden vorstellen, nämlich dass die europäisch-arischen Völker ausgerottet werden. Das Ergebnis dieses Krieges wird die Vernichtung des Judentums sein.» Sechs Millionen Juden wurden wegen dieser einen Lüge ermordet.

Putins Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine zeigt sämtliche Elemente einer faschistischen Intervention. Da ist der fanatische Nationalismus. Ebenso unvorstellbare Brutalität. Da ist vor allem aber auch die Selbstinszenierung des Täters als Opfer, das sich jetzt endlich wehrt. Putin begründete den Angriff am 24. Februar mit den Worten: «Ziel ist es, Menschen zu schützen, die dem Völkermord durch das Kiewer Regime ausgesetzt sind.»

Der Kreml spricht bekanntlich nicht vom Krieg gegen die Ukraine, sondern von einer speziellen Militäroperation. Auch diese Lüge ist derart abstrus, dass sie die Menschen in Russland leicht durchschauen können. Es ist verblüffend, in diesen Wochen russische Zeitungen zu lesen und russisches Fernsehen zu schauen. Im Grunde werden dort rund um die Uhr dieselben schrecklichen Ereignisse behandelt wie bei uns: Bombardierungen, Gefechte, Gräueltaten, stets auf ukrainischem Boden. Bloss wird dieser Angriff eben als Verteidigung dargestellt.

Über das Massaker von Butscha berichtete der Reporter von Putins Lieblingszeitung «Komsomolskaja Prawda»: «Die Strassen voller Leichen von Zivilisten. Folterspuren, gefesselte Hände, scharlachrotes Blut. Aufnahmen aus der Stadt Butscha lassen die Seele frieren.» Ja sogar von einem «ukrainischen Srebrenica» ist in dem Artikel die Rede – Anspielung auf ein Kriegsverbrechen im Bosnienkrieg. Dann aber kippt die Erzählung, der Reporter schreibt: «Jetzt werde ich erklären, warum Srebrenica in Butscha eine Fälschung ist.» Es folgt eine Tirade, wonach diese Schlächterei von der ukrainischen Armee verübt und den Russen in die Schuhe geschoben worden sei.

Warum ist es wichtig, den faschistischen Charakter von Putins Krieg zu betonen? So wie Hitlers Nationalsozialismus seine spezifische Geschichte und Ausprägung hatte, so ist dies auch beim Putinismus der Fall. Es wäre daher naiv, die beiden Phänomene einfach gleichsetzen zu wollen. Doch ihre Gemeinsamkeiten zu benennen, führt zu einer wichtigen Erkenntnis: Der Faschismus ist keine einmalige Verirrung des 20. Jahrhunderts, wie die meisten Politiker und Historiker lange glaubten. Er kann jederzeit, in immer neuen Varianten wieder auftauchen.

Bei der französischen Präsidentschaftswahl vor einer Woche erzielte eine erklärte Bewunderin Wladimir Putins 13,3 Millionen Stimmen. Die grossen Linien ihrer politischen Überzeugungen seien jene, für die auch Putin eintrete, hat Marine Le Pen einmal gesagt. Ihr Erfolg ist ein Alarmzeichen für all jene, die für eine offene Gesellschaft sowie einen demokratischen Rechtsstaat eintreten. Denn offensichtlich sind im Westeuropa des Jahres 2022 Millionen Menschen so verunsichert, dass das Prädikat Putin-Verehrerin auf sie zumindest nicht abschreckend wirkt.

Was also ist der Faschismus? Angesichts der Herausforderungen, vor die uns insbesondere die Klimakrise stellen wird, ist er die grösste politische Bedrohung des 21. Jahrhunderts. Die gute Nachricht: Der Faschismus hat nur dort eine Chance, wo die etablierte Politik und die Wirtschaft komplett versagen. Wenn es den Verantwortungsträgern gelingt, den Menschen echte Perspektiven zu bieten, dann sucht auch niemand sein Heil in den Lügen.

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