Ignazio Cassis, der Tessiner Bundesrat, der es Deutschschweizer Journalisten kaum je recht machen kann, ergänzt die eidgenössische «Neutralität» mit einem Eigenschaftswort: «Kooperative Neutralität» soll jetzt die Maxime lauten, an der sich die Schweizer Aussenpolitik orientiert.
Natürlich gibts bereits Einwände. Der Zürcher «Tages-Anzeiger» bemäkelt den Einfall des Aussenministers: «Die Schweiz braucht keine neuen Adjektive.» In der Tat: Die Schweiz braucht eine neue Politik. Aber genau das bringt der Begriff «kooperative Neutralität» zum Ausdruck.
Wörter s i n d Politik. Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte die Folgen von Putins Krieg gegen die Ukraine als «Zeitenwende». Der Begriff ist seither Angelpunkt vieler Politikerreden, die sich mit der veränderten Wirklichkeit beschäftigen.
Und mit dem Wort von Ignazio Cassis ist ausgesprochen, was die Schweizer Aussenpolitik künftig zu leisten hat: solidarisches Engagement.
Was aber bedeutet das? Zum Beispiel Massnahmen gegen die russischen Oligarchen, die es sich hierzulande gemütlich gemacht haben: mit Hilfe von Anwälten, Treuhändern, Kantonspolitikern und allerlei weiteren Hofschranzen.
Putins Geldadel liebt die Schweiz. Die Schweiz liebt Putins Geldadel.
Das Alpenland ist, was die Beziehung zu den Reichen und Reichsten des Globus betrifft, ein Monaco, schlimmer noch – ein Malta: So geht die Rede in internationalen politischen Kreisen.
Natürlich stimmt das nicht. Was stimmt: Die Schweiz ist eine Spitzenkraft der globalen Wirtschaft. Doch die einzige direkte Demokratie inmitten Europas hat zwei Seiten: die helle ihrer wertschöpfenden Unternehmen und die dunkle ihrer Gier nach Geld – auch nach Gauner-Geld.
Kooperative Neutralität müsste demnach dort ansetzen, wo die unsolidarische Schweiz beginnt: bei den paradiesischen Verhältnissen für Parteigänger parasitärer Potentaten – von denen Putin nur einer ist.
Wie kann es sein, dass ein Oligarch, wie jüngst geschehen, sein Vermögen einfach seiner Frau überschreibt, um damit den Sanktionen zu entgehen? Und das zuständige Wirtschaftsministerium von Bundesrat Guy Parmelin schaut zu und lässt sich nichts einfallen ausser einer faulen Ausrede.
Seit Jahren wirkt in der Schweiz der Oligarch Viktor Vekselberg als Grossaktionär bedeutender Unternehmen. Seit der Annexion der Krim durch Russland 2014 ist er von internationalen Sanktionen gegen Personen aus Putins Umfeld betroffen.
Viktor Vekselberg finanzierte die Überführung der sterblichen Überreste des russischen Philosophen Iwan Alexandrowitsch Iljin, der in Zollikon begraben war, nach Moskau – Wladimir Putin nahm an der Beisetzung im Donskoi-Kloster teil.
Iljin gilt als Vordenker des Demokratie-Hasses und als Begründer eines orthodox-christlichen Faschismus. Von Hitler war er begeistert. Seine Anhänger huldigen ihm als dem «Säulenheiligen der konservativen russischen Staatsideologie» – der Ideologie Wladimir Putins.
Und was macht Viktor Vekselberg in der Schweiz? Er geniesst die Demokratie, die seine Spiessgesellen in Russland dem Volk vorenthalten. Er geniesst die Werte des freien Westens, denen sein Freund im Kreml den Krieg erklärt hat – inklusive der Drohung mit Atombomben.
Was wäre im Fall Vekselberg kooperative Neutralität? Dass der Fall nicht mehr vorkommt, weil die Schweiz solche Zuwanderer in Zukunft nicht mehr willkommen heisst.
Das wäre dann die helvetische «Zeitenwende» von Neutralität zu «kooperativer Neutralität».
Ja, neue Begriffe beschreiben eine plötzlich so völlig neue Welt. Möge Ignazio Cassis mit seinem Begriff «kooperative Neutralität» der Schweiz einen begreifbaren Weg weisen: zum Finanzplatz für Reichtum durch Leistung – und für Zuzüger mit demokratischer Kultur.